Zu Navid Kermani: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott

Beten, Gott und alles das – auf einem Schlafblog? Scheint richtig weit auseinander, ist es aber nicht. Schließlich kann uns vieles am Schlafen hindern, ganz besonders Grübeln, Aufregung oder das Hadern mit sich selbst. Und zu den Wegen, das aufzulösen, gehört Meditieren, wozu man durchaus auch manche Gebetsformen zählen kann, Rezitieren etwa, Singen und sogar Tanzen. In Navid Kermanis neuestem Buch „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näherkommen. Fragen nach Gott“ geht es allerdings eher um die Meta-Ebene des Betens: Allabendlich spricht Vater Navid mit seiner zwölfjährigen Tochter über den Gott, der im Zentrum seines Betens steht. Danach soll das Kind natürlich gut schlafen, also entspannt sein und nicht über schwierige Dinge nachgrübeln.

Das Cover – kalligraphisch

Kermani will die Tochter seine Religion persönlich lehren, den Islam. Schließlich lernt sie in ihrem katholischen Religionsunterricht höchstens die katholische Sicht darauf (das sagt er nirgends; allerdings bleibt unklar, warum sie den überhaupt besucht). Die Gespräche sollen dem Mädchen den Islam des geliebten, aber verstorbenen Opas nahebringen und ihre Zweifel zerstreuen. Kermani ermuntert sie, Fragen zu stellen, und das tut sie. Ihre Fragen sind klug und ungewöhnlich erwachsen, sie betreffen Historisches, Naturwissenschaften und alle Religionen. Der Schriftsteller-Papa erzählt Geschichten: über den Koran und die Tradition, über Mohammed und Koran-Gelehrte, über die arabische Sprache und über Oma und Opa, die ihre Heimat Persien verließen, bevor es Navid gab. Einiges erzählt er auch über Biologie, Physik und über die monotheistischen Religionen. Dünn wird es bei den nicht-monotheistischen, da referiert er tendenziell bekannte Märchen europäischer Nabelschau.

Qua Beruf und Herkunft darf sich Navid Kermani in Scheherezades Tradition sehen, wobei er sein Gegenüber sicher nicht wachhalten will, wie es die legendäre persische Königin tausend und eine Nacht lang tat, um nicht von ihrem Gemahl ermordet zu werden. Der Papa sagt dem Kind sogar, es wäre ihm am liebsten, wenn es nach dem allabendlichen Gespräch gegen zehn Uhr schlafen würde (was für zwölf Jahre nicht früh ist). Meist wird es trotzdem elf Uhr. Bewegt sich die Tochter also schon in anfangspubertärer Weise Richtung Abendtyp? Oder halten Papas Geschichten das Kind unabhängig vom biologischen Rhythmus auch hinterher noch wach?

Kermani hält den Islam für richtiger als das Christentum, beinhart „bezeugt“ er Mohammed als den letzten und damit (end-)gültigen Propheten. Judentum und Christentum kann er trotzdem tolerieren. Nicht nur, weil alle drei den gleichen Gott haben, sondern auch, weil sie eine lineare Zeitvorstellung teilen. Die hält er für besser als die zyklisch-rhythmische der meisten Nicht-Monotheisten, wo eintönig das ewig Gleiche immer wiederkehre, ohne dass es eine Entwicklung gäbe. Dabei weist er auf etwas äußerst Interessantes hin: Religionen mit einer zyklischen Zeitvorstellung blickten mehr auf die Geburt, während die monotheistisch-linearen den Schwerpunkt auf den Tod legen würden. Warum? Sie wollen ihn „besiegen“. Das findet Kermani nicht erstaunlich, sondern großartig. Wobei der Papst sagen würde: stimmt nicht. Die Christen wollen den Tod nämlich gar nicht mehr besiegen. Sie „bezeugen“, dass Jesus das bereits erledigt hat, und zwar für alle Menschen. Könnte es sein, dass eine Zwölfjährige da ins Grübeln kommt? Und dass es ihr den Schlaf rauben könnte, wenn sie den Tod „besiegen“ soll statt das rhythmische, also zyklische Leben zu feiern?

Ein besonderer Graus ist Kermani die nontheistische Weltreligion, die aus europäischer Perspektive das Etikett „Buddhismus“ trägt (in Asien sagen sie dazu meist Buddhas Lehre oder Buddhas Weg). In traditioneller christlicher Weise tut er den Buddhismus als „abgrundtief pessimistisch“ ab. Vielleicht hält er ihn auch für polytheistisch, das kann einem einfallen, wenn man sich religionswissenschaftlich nicht so gut auskennt. Polytheismus jedenfalls, erklärt Kermani seiner Tochter völlig selbstverständlich, sei die „einzige Sünde“, die der islamische Gott „niemals verzeiht“. Hier kann die Tochter nicht mitgehen, will sie doch allen Menschen ihren eigenen Blick auf die Welt zugestehen, wie man das in ihrem Freundeskreis tut. Das Befremden darüber, dass es unverzeihlich sein soll, wenn Menschen das Göttliche oder Heilige in vielen Gestalten sehen (dass die oft weiblich sind, erwähnt Kermani nirgends), könnte sie durchaus in den Schlaf verfolgen.

Auch die Gewaltfrage im Koran verstört das Kind, und auch die kann der gläubige Vater nicht auflösen. Er zieht sich darauf zurück, dass die Koransuren zur Gewalt eben „nicht jugendfrei“ seien und sowieso erst „geoffenbart“ wurden, als die Mekkaner Mohammed gewissermaßen für verrückt erklärten und stur an ihrer traditionellen Religion festhielten. Dem musste er dann halt mit Gewalt begegnen. Segen von oben inbegriffen. Und?

Wann ist eine Geschichte schlaffreundlich? Wenn sie spannend ist, aber nicht aufregend, wenn man sie unangestrengt und leichten Herzens versteht, wenn sie gut ausgeht und keine existenziellen Widersprüche beinhaltet. Vielleicht ist die abendliche Geschichtensituation ja nur Kermanis dichterischer Freiheit geschuldet, schließlich erlaubt das, wissenschaftlich eigentlich nötige Argumente auszulassen, weil Zwölfjährige sie falsch verstehen würden. Doch in dieser Erzählsituation gibt es diese Zwölfjährige. Und die ist am Schluss tatsächlich nicht überzeugt. Vielleicht liegt es auch daran, dass manche der Geschichten sie nicht schlafen ließen.

Dr. Heidbreder, die Schlafschule und die Süddeutsche

Letzte Woche feierte die Schlafzunft ihr Hochamt: den Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin, DGSM. Zwar nur im Netz, aber immerhin. Die Medien nehmen diesen Kongress gerne zum Anlass, sich etwas genauer mit dem Schlaf zu beschäftigen.

Diesmal hat die Süddeutsche Zeitung ein Interview abgedruckt, das Felix Hütten mit Anna Heidbreder geführt hat. Dieses Interview ist so gut, dass ich es in meinen nächsten Schlafschule-Seminaren verwenden werde. Heidbreder ist Schlafmedizinerin (das ist ein medizinischer Titel) und Somnologin (das ist ein Titel der wissenschaftlichen Fachgesellschaft). Die Oberärztin an der Uniklinik Innsbruck ist im Hauptberuf Neurologin, so dass ihre Arbeitsschwerpunkte auch in Sachen Schlaf (nach unten scrollen, AH kommt erst nach den vier Hauptvorständen) neurologisch sind: etwa Narkolepsie, das Syndrom der unruhigen Beine (restless legs) oder die REM-Schlaf-Bewegungsstörung (RBD). In den REM-Phasen (REM kommt von Rapid Eye Movement) träumen wir unsere verrücktesten Träume. Sinnvollerweise ist da die Muskulatur weitgehend gelähmt, andernfalls würden wir nämlich diese Träume auch ausagieren und gewissermaßen um uns schlagen. Genau das erleben Personen mit RBD, bei ihnen funktioniert die Lähmung nicht mehr.

Weniger zum Schlafen geeignet – gemachtes Bett im Glashaus am Bodensee. Landesgartenschau Lindau 2021

Allerdings interessieren sich die meisten Leute für neurologische Schlafthemen eher dann, wenn sie selbst davon betroffen sind. Weiterlesen tun sie eher, wenn es darum geht, wie man besser schläft. Felix Hütten fragte in diese Richtung, und das sehr pfiffig. Nun hängt es grundsätzlich nicht zuletzt an den Fragen, wie gut jemand antwortet – und hier haben sich zwei getroffen, wo es funktioniert hat. Heidbreder jedenfalls antwortet wunderbar, auch sehr fundiert über die Psychologie des guten Schlafs.

Besonders gefreut hat mich, dass die Neurologin Anna Heidbreder sich traut, den gängigen schlechten Schlaf mit dem zusammenzudenken, wie unsere Gesellschaft so tickt: „Wir möchten ständig unser Leben optimieren, auch den Schlaf“, sagt sie, um die verbreitete Unfähigkeit zum Abschalten zu erklären. In meinen eigenen Schlafschule-Seminaren habe ich auch immer wieder Menschen erlebt, die es ernsthaft erzürnt, von einer grundlegenden Erkenntnis zum Schlaf zu hören: Der Schlaf ist tatsächlich etwas, was sich nicht willentlich optimieren lässt, schon gar nicht, indem man sich darauf konzentriert. Er wird nur dann gut, wenn wir ihn bzw. die Biologie nicht mit unseren Vorstellungen behelligen. Ein bisschen hochtrabend ausgedrückt: er ist gut, wenn wir das Leben selbst machen lassen.

Heidbreder sagt auch eindeutig, wie unsinnig, ja geradezu kontraproduktiv es ist, den eigenen Schlaf zu tracken. „Einfach mal abschalten“ – dieser wichtigste Weg zum guten Schlaf lässt sich weder mit Optimierung vereinbaren noch mit dem, was heutzutage zur Optimierung gehört: Tracking jeder Art. Schlafen ist das Gegenteil von Leistung.Er ist nicht Tun, sondern Lassen. Wie schön, dass das jemand Professionelles sagt. Noch dazu jemand aus dem DGSM-Vorstand. Danke!

Zu Shida Bazyar: „Nachts ist es leise in Teheran“. Roman

Bazyar – Teheran – Cover

„Nachts ist es leise in Teheran“ – wie schön: ein melodischer Buchtitel, in dem die Nacht vorkommt, und sie ist leise, wie sie sein sollte, und es klingt vorsichtig und zart. Dass es irgendwo leise ist in der Nacht, fällt ja nur unter besonderen Umständen auf. Entweder, wir schlafen dort gar nicht, weil wir etwas anderes zu tun haben, oder besonders gut, weil es ruhiger ist als zu Hause. Ist der Titel ein Spleen des Verlages? Oder hat er einen tieferen Sinn? Spannend für uns Schlaf-Leute.

Im taz-Interview von der Leipziger Buchmesse 2018 fragt Doris Akrap die Autorin Shida Bazyar nicht nach dem Titel, und auch bei den aktuell 35 Amazon-Besprechungen geht niemand darauf ein. Das finde ich erstaunlich – und dann auch wieder nicht. Wer fragt schon nach Schlaf? Tatsächlich fällt mir da sofort Kalkutta ein, wo es tagsüber ohrenbetäubend ist, und nachts fast alle trotzdem Ruhe geben. In Teheran ist das offenbar ähnlich, im Gegensatz zu Paris und all den anderen Weltstädten, die sich rühmen, „niemals“ zu schlafen. Teheran ist nachts leise, zumindest im Jahr 1999, wie die Romanfigur Laleh mehrfach erstaunt feststellt – und das ist eine Liebeserklärung, wenn auch eine gebrochene.

Fünf Perspektiven, fünf Zeiträume, eine Familie

Sie kamen zwar im Bus nach Istanbul – aber vielleicht doch nahe des Bahnhofs Haydarpascha

Fünf Personen lässt Shida Bazyar in ihrem Debüt-Roman in je einer eigenen Erzählung zu Wort kommen, ein Paar und seine drei Kinder. Anfang der 1980er-Jahre floh die damals vierköpfige Familie vor dem iranischen Mullah-Regime erst nach Istanbul und dann nach Deutschland, nachdem der beste Freund des Vaters verhaftet worden war, ohne realistische Aussicht, das zu überleben.

Jedes Familienmitglied erzählt in einem Kapitel über sein Leben und Erleben zu einem bestimmten Zeitpunkt am damaligen Lebensmittelpunkt. Vater Behsad über seine Revolution in Teheran 1979, die Freiheit und ein gutes Leben wollte und im religiösen Blutrausch endete. Mutter Nahid 1989 über das deutsche „Exil“ und die fremde Kultur hier, wo sie aber schließlich ein neues Studium aufnimmt und abschließt.

Fachwerk – ziemlich sicher woanders, aber halt deutsch

Die Tochter Laleh spricht 1999, als sie nach der zehnten Klasse mit Mutter und Schwester erstmals die in Teheran zurückgebliebene Familie besucht; sie vergleicht das Leben dort mit dem zu Hause im ungenannten deutschen Fachwerkstädtchen. Lalehs jüngerer Bruder Morad, kurz Mo, philosophiert 2009 über sich. Da studiert er offiziell in Göttingen Geographie. Tatsächlich hängt er genauso rum wie sein bester Freund Tobi. Doch dann verfolgt er auf Youtube die „Grüne Revolution“ in Teheran, denkt an seinen einzigen Besuch dort – und fühlt sich plötzlich anders.

Tara, die Jüngste und wie im deutschen Märchen die Allerschönste, ist als einzige erst hier geboren. Sie, die den Namen der Tochter eines Mitkämpfers von Behsad trägt, spielt auf drei Seiten roadmoviehaftem Epilog eine undatierte Zukunftsmusik: Alle Tageszeitungen in der Tankstelle berichten, Jugendproteste im Iran hätten das islamische Regime hinweggefegt. Tara und Lalehs da bereits erwachsene Tochter jubeln.

Das Leben hier und die Sehnsucht nach dort

„Nachts ist es leise in Teheran“ ist eine Geschichte über Liebe und Poesie, Hoffnung und Gefahr, Revolution und Exil, die hochpolitische Handlungen und Beobachtungen in Iran und Deutschland auf sehr eigenwillige und sehr literarische Art in eine Familiengeschichte einbettet. Den kommunistischen Eltern hat das Exil das Leben gerettet, ihren beiden älteren Kindern die Freiheit. Gleichzeitig hat es allen Familie, Freunde, Sprache und Kultur genommen. Die Erwachsenen sind mit einem Fuß immer im Iran, mit einem Ohr und einem Auge verfolgen sie das Geschehen dort. Auch die Kinder müssen sich immer wieder neu orientieren, bis hin in die dritte Generation, zwischen ihren beiden „Heimaten“.

Nachts ist es leise in Teheran – und schlafen sowieso ein Glück

Und die Nacht? Der Schlaf? Der Ort, wo man schläft? Sie kommen alle vor, werden in verschiedensten Zusammenhängen erwähnt, und immer ist das liebevoll. Dieses Buch hätte kein Mensch schreiben können, der den Schlaf verachtet, keiner, der stolz verkündet, wenig zu schlafen, keiner, der den Schlaf für Zeitverschwendung oder gar Faulheit hält. Schlaf ist für die auftretenden Personen elementar und nachgerade tröstlich, sie erwähnen den Schlaf der Kinder und wie man im Schlaf bei sich ist. Die Protagonisten schützen den Schlaf ihrer Lieben, sie erzählen Träume, als wären es Tagesereignisse. Wie man schläft, wann man schläft, wo man schläft – oder eben nicht: alles beeinflusst, wie das Leben weitergeht. Die Teheraner Nacht ist leise, im Gegensatz zum lauten Tag, und sie öffnet Freiräume. Erst begibt sich die Großfamilie gemeinsam in den Park, später auf die persischen Teppiche im Hauptraum des Hauses. Dort schlafen die einen, die anderen tun, was tagsüber zu gefährlich wäre: über die wirklich wichtigen Dinge flüstern. Die einzige Sex-Szene übrigens, fast gehaucht angedeutet, ignoriert das Bett im Fachwerkstädtchen.

Bazyar erzählt das in langen, schönen, entspannten und doch manchmal atemlosen Sätzen, literarisch so gekonnt verarbeitet, dass man darin baden möchte. Der Schlaf und die Nacht decken Freud und Leid zu, selbst Alpträume haben etwas Freundliches. Alles gehört zusammen – und womöglich ist der Schlaf die dritte Heimat.

Schlafkunde – was es so über Schlaf zu sagen gibt

Nach wie vor gilt Jürgen Zulley als „Schlafpapst“ Deutschlands. „Sein“ Schlaflabor in Regensburg war ständiger Gast im Fernsehen, und er natürlich mit. In seinen kurzen Statements erklärte er dabei wie in seinen Vorträgen lustig, kolloquial und in ganz normalem Deutsch, was es mit dem Schlaf auf sich hat, mit den Schlafstörungen und mit der Chronobiologie. Jetzt hat er ein kleines Buch herausgebracht, in dem er genau das auf aufgeschrieben hat.

Schlafkunde_ZulleyDieses Büchlein heißt ausdrücklich Schlafkunde, weil es Wissen vorstellt; es will keine Beratung oder gar Therapie bieten. Es versammelt 22 prägnante, einzeln lesbare Artikel über alle möglichen Fragen, die immer wieder rings um den Schlaf auftauchen. Die meisten haben Menschen in Klinik oder Universität irgendwann an ihn herangetragen. Er beschreibt wissenschaftlich, was beim Schlafen so im Gehirn passiert, aber er diskutiert auch strittige Themen wie die Frage, ob der Vollmond irgendeinen Einfluss auf den Schlaf hat (sein Schluss aus der Gesamt-Forschungslage heißt: definitiv keinen). Er befasst sich mit praktischen Dingen wie Schlaf und Reisen, Schlaf und Ernährung oder Schlaf und Sport.

Zulley ist Chronobiologe der ersten Stunde – er war Mitglied der Forschungscrew bei den weltberühmten Versuchen zur Inneren Uhr, die Jürgen Aschoff in den 1960er- und 70er-Jahren in einem unterirdischen Forschungslabor im Andechser Berg leitete. Auch darüber berichtet er. Außerdem nimmt er kompetent Stellung zu Fragen, wo sich Schlaf und Chronobiologie treffen: zum Mittagsschlaf – sinnvoll; zum Schulbeginn – da gibt es ein Forschungsdefizit; zur Sommerzeit – ohne jedes Wenn und Aber schädlich; zum Licht – schlichtweg unerlässlich; zu Jahres-, Wochen- und Tagesrhythmen allgemein – sie sind Teil unseres biologischen Erbes, deshalb geht es uns nur gut, wenn wir sie respektieren.

Die meisten Kapitel basieren Zulleys Kolumnen in der Patientenzeitschrift Schlafmagazin, andere sind für dieses Büchlein ergänzt. Die Texte, die sich so locker lesen, als hielte der Autor gerade einen Vortrag, spannen einen schönen Bogen vom Allgemeinen zum Besonderen. Wer immer sich einfach vergnüglich informieren will, ohne sich intensiv in die Fachliteratur zu vergraben, ist damit wunderbar bedient.

Sie können es direkt beim Verlag bestellen.

 

Schlafen – jetzt ein Nickerchen

Wer viel pennt, ist doof, und wer schnarcht, weckt nur die anderen: Am Tag des Schlafes wird mit Mythen aufgeräumt – streng wissenschaftlich. Damit Sie besser schlafen.

Seit alters brennen am 21. Juni die Sonnwendfeuer, die Menschen feiern und machen diese Nacht zum Tag. Ausgerechnet dieses Datum wählten vor Jahren zwei Frankfurter, um für guten Schlaf zu werben. Bis heute wird ihr Tag des Schlafes begangen. Dabei sagt der Volksmund, im Hochsommer brauche man sowieso wenig Schlaf und beim Feiern fast keinen. Stimmt nicht ganz, sagt die Wissenschaft. Anlass genug, um einmal sechs gängige Volksweisheiten zum Schlaf zu hinterfragen.

1. Wer im Sommer durchmacht, ist weniger müde

Am 21. Juni ist es in Hamburg erheblich länger hell als in Garmisch, am Nordpol fällt die Nacht sogar ganz aus. Nur in Äquatornähe sind Tage und Nächte ganzjährig nahezu gleich lang. Die Jahreszeiten beeinflussten den Schlaf früher stark; in den kurzen Sommernächten des Nordens schlief man systematisch kürzer als im Winter. Ist das vorbei, seit wir alles bis zum Nordkap flächendeckend beleuchten?

Offenbar nicht ganz, wie eine norwegische Arbeitsgruppe um Oddgeir Friborg nachwies (Friborg et al., 2011). 180 Menschen aus dem Norden Norwegens zeichneten ihren Schlaf auf, eine Woche im Januar und eine im August. 150 Einwohner Accras, der äquatornahen Hauptstadt Ghanas, taten dasselbe. Die Ghanaer schliefen das ganze Jahr über gleich lange. Die Norweger dagegen machten im Winter das Licht auch mal aus und schliefen länger, die endlose Dunkelheit machte sie trotz Kunstlicht müde. Ganz unabhängig von den Jahreszeiten ist der Mensch also auch heute nicht. Dass durchgemachte Sommernächte Schlaf ersetzen könnten, ist jedoch Wunschdenken.

2. Unter acht Stunden geht gar nichts

Normal seien acht Stunden Schlaf, heißt es oft. Diese Norm ploppt fast automatisch auf, wenn jemand nachts nicht schlafen kann und besagte acht Stunden nicht mehr möglich sind. Dann grübelt man schon mal: Werde ich deshalb die Prüfung vermasseln? Krank werden? Sterben? Stand der Forschung ist: Im Mittel schlafen gesunde Erwachsene sieben bis acht Stunden (Tinguely, Landolt, Cajochen, 2014). Wie jede Statistik taugt aber auch diese nicht als Maßstab für den Einzelfall. Es beginnt damit, dass die Schlafdauer im Lauf des Lebens sinkt, von 16 Stunden bei Säuglingen bis zu den knapp acht der Erwachsenen. Dazwischen liegen die Jugendlichen, auch wenn viele es nicht gerne hören, dass sie noch neun Stunden brauchen.

Um diese Mittelwerte herum gibt es Bandbreiten des Richtigen; manche Menschen brauchen mehr als ihre Altersgruppe, andere kommen mit weniger aus. „Richtig“ hängt an einer Frage: Wie wach und leistungsfähig bin ich tagsüber? Wer unwillkürlich einschläft, ob am Steuer oder auf der Schulbank, hat ein klares Schlafdefizit. Wer außerhalb der Mittagsschlafzeit länger müde ist, auch.

3. Wer viel pennt, ist doof

Alles zwischen fünf und zehn Stunden Schlafbedürfnis kann normal sein. Trotzdem gilt hierzulande als faul, wer zehn Stunden braucht, meist sogar als geistig minderbemittelt. Dabei gehörten zwei unbestritten Hochintelligente zur Zehn-Stunden-Fraktion: Einstein und Goethe. Es gibt Kluge und weniger Kluge bei Langschläfern wie Kurzschläfern, Intelligenz und individuelles Schlafbedürfnis haben bei Erwachsenen nichts miteinander zu tun. Dennoch hält sich der Mythos hartnäckig, vor allem unter Menschen, die gerne als Leistungsträger betitelt werden, ganz im Sinne von Napoleons Behauptung: „Vier Stunden braucht der Mann, fünf die Frau und sechs der Idiot“.

Tatsächlich können wir zeitweise absichtlich kürzer schlafen, ohne gleich krank zu werden. Geistig leistungsfähig sind wir dann allerdings deutlich weniger und emotional ausgeglichen auch nicht (Weber et al., 2014). Bei Kindern scheint die Sache klarer, wenn auch umgekehrt. Kinder, die länger, vor allem aber besser schlafen, erzielen höhere Leistungen beim Denken und in Intelligenztests (Gruber et al., 2010).

4. Drei Tage wach mit Koffein und Kippe?

Koffein, Alkohol und Nikotin – unsere Alltagsdrogen sind legal, unangenehme Nebenwirkungen haben sie trotzdem, auch in Sachen Schlaf (Garcia, Candidate, Salloum, 2015). Alkohol gilt direkt als Schlummertrunk. Tatsächlich schläft schneller ein, wer einmal etwas trinkt, besser schläft er aber nicht. Wer regelmäßig trinkt, verspielt den Effekt. Auf Dauer riskiert er sogar ein echtes Schlafproblem, und das lange vor der Sucht.

Koffein und Nikotin nehmen wir ausdrücklich, um wach zu sein. Sehr viel Koffein steckt in Kaffee, weniger in Tee und Cola-Getränken, sehr wenig in Schokolade. Koffein weckt objektiv und oft länger, als uns lieb ist. Es kann nämlich bis zu fünf Stunden dauern, bis auch nur die Hälfte des Koffeins abgebaut ist. Mit Koffein im Blut schläft man schwerer ein, und der Schlaf wird flach und kurz. Auch Nikotin macht wach. Noch Stunden nach der letzten Zigarette kann es den Schlaf stören, und das auch langfristig. Zumindest schläft fast jeder dritte Raucher regelmäßig schlecht, auch wenn er sonst gesund ist (Cohrs et al., 2012). Das sind 50 Prozent mehr als bei vergleichbaren Nichtrauchern. Je mehr man raucht, umso riskanter wird es.

5. Wer schnarcht, hat selbst keine Probleme

Schnarchen ist laut, manchmal peinlich und meistens unschön. Aber es stört doch nur die anderen? Dieser Mythos hat schon viel Leid verursacht. Häufig ist Schnarchen nämlich alles andere als harmlos, sondern ein wichtiges Symptom der obstruktiven Schlafapnoe. Bei dieser Krankheit setzt nachts der Atem mehrmals pro Stunde aus, weil die Luftröhre kurz gewissermaßen in sich zusammenfällt. Dann gelangt keine Luft mehr in die Lunge und damit ins Gehirn. Das wird schnell lebensgefährlich, deshalb sorgt das Gehirn dafür, dass ein ganz besonders tiefer, besonders lauter Atemzug den Sauerstoffpegel wieder erhöht. Der Betroffene wacht nicht unbedingt auf, ist aber tagsüber müde. Auf lange Sicht riskiert er Herzinfarkt und Schlaganfall.

Deshalb sollte man gegensteuern, notfalls mit einer Sauerstoffmaske. Es gibt einige Versuche, eine Diagnose allein an der Art des Schnarchens festzumachen. Doch bisher taugen die Methoden allesamt noch nicht, wie Hui Jin und Kollegen aus dem chinesischen Guangzhou kürzlich berichteten (Jin et al., 2015). Man muss immer noch ins Schlaflabor.

6. Gut schläft, wer vor Mitternacht im Bett liegt

Wer in 24/7-Zeiten den Schlaf vor Mitternacht noch für den besten hält, geht als mythengläubig durch. Wo man doch morgens nach der Party super schläft. Leider nur ein neuer Mythos. Der Schlaf ist in sich gegliedert und verläuft in 90-Minuten-Zyklen, notfalls auch mittags.

Jeder Zyklus beginnt mit Leichtschlaf und endet mit REM-Schlaf (rapid eye movement); da bewegen sich die Augen schnell und wir träumen die richtig verrückten Geschichten. Dazwischen kann es Tiefschlaf geben. Im Tiefschlaf sind wir schwer zu wecken, und er ist besonders erholsam – es hat durchaus eine Logik, ihn als den „besten“ zu bezeichnen. Doch Tiefschlaf gibt es bevorzugt in den ersten beiden Zyklen, und das nur, wenn auch die Körpertemperatur stimmt.

Die ist gerade richtig, solange sie am Fallen ist. Das tut sie zwölf Stunden lang bis zum Tiefpunkt in der zweiten Nachthälfte. Er liegt bei Morgentypen früher, bei Abendtypen später, man nennt ihn auch „biologische Mitternacht“ (Zulley, Knab, 2015). Danach wird es schwierig mit dem Tiefschlaf. Es gibt ein Zeitfenster für den „besten“ Schlaf. Die gute Nachricht: Um 24 Uhr ist es noch nicht geschlossen.

Dieser Beitrag wurde zuerst am 21. 6. 2017 auf ZEIT-online veröffentlicht