Europäische Union (EU), Mitteleuropäische Zeit (MEZ) und politisches Framing

Am letzten März-Wochenende habe ich auf ZEIT-online zusammengefasst, wie es die Gesundheit beeinträchtigt, dass wir bisher zweimal jährlich die Uhren umstellen mussten. Das können Sie hier anklicken.

EU-Umfrage zur sogenannten Zeit-Umstellung

Echte Zeit oder MESZ? Nicht erkennbar.

Echte Zeit oder MESZ? Nicht erkennbar.

Mit kleinen Veränderungen finden Sie den Text auch hier, weil ihn die Redaktion erneut hochgeladen hat, nachdem die Ergebnisse der EU-Umfrage zur Uhrenumstellung bekannt waren. Die EU-Kommission hatte die 512 Millionen EU-Bürger dazu online befragt, geantwortet haben lausige 4,6 Millionen, davon drei Millionen aus Deutschland. Die übergroße Mehrheit, vier von fünf, plädierte dafür, die Uhren nicht mehr umzustellen. Ich natürlich auch.

All denen, die keine Uhrenumstellung wollten, hatte die EU-Kommission noch eine zweite Frage gestellt: Sie fragte, ob sie lieber ständig „Winterzeit“ oder ständig „Sommerzeit“ haben wollten.

Politisches Framing

Diese zweite Frage ist suggestiv. Früher nannte man so etwas Propaganda, heute vornehmer „Politisches Framing„. Mit dem Thema „Framing“ wurde die US-Professorin Elisabeth Wehling, die aus Hamburg stammt, bekannt: Sie wendet ein psychologisches Phänomen auf die Sprache der Politik an. Es war Daniel Kahneman, der den Begriff in der Psychologie erstmals benutzte. Er ist ebenfalls US-Professor und außerdem bekam er 2002 den „Preis der Bank von Schweden“, einen Wirtschaftspreis, der als Analogon zum Nobelpreis gilt. Er bekam ihn dafür, dass er empirisch belegte: der Mensch hat, anders als die Ökonomie behauptet, außer seinem persönlichen Profit noch eine Menge anderes im Sinn.

Daniel Kahneman ist Psychologe und er hat in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ viele „Framing“-Geschichten beschrieben. Die laufen oft auf Szenarien dieser Art hinaus: Wenn man Menschen erzählt, eine Sache gehe mit 90 Prozent Wahrscheinlichkeit gut aus, entscheiden sie sich meistens dafür; erzählt man ihnen, das Risiko des Scheiterns der gleichen Sache betrage 10 Prozent, lassen sie die Finger davon. Dabei ist das Risiko in beiden Fällen exakt gleich. Aber die meisten Menschen nehmen ein Bild als völlig anders wahr, je nachdem, ob man den Scheinwerfer auf das Positive richtet oder auf die Gefahr. Das ist der Rahmen; er verändert ihr subjektives Bild so stark, dass sie die Entscheidung daran ausrichten, wie das Bild gerahmt ist.

Framing Sommer, Framing Winter

Genau das passierte notwendig bei der EU-Befragung. Sommerzeit – diesen Begriff sieht man unwillkürlich in dem „Rahmen“ Sommer, Sonne, Urlaub, blaues Meer oder zumindest Biergarten und lange, laue Abende draußen. Zum „Rahmen“ für Winterzeit dagegen gehört Kälte, Dunkelheit, Heizen, Innenräume und schlechte Verkehrsverhältnisse. Da wundert man sich nicht darüber, was so viele aus Deutschland wählten, vermutlich vorwiegend Kinderlose und Leute mit Normalarbeitszeiten.

Die einzige "echte" Zeitmessung: Sonnenuhr

Einzig „echte“ Zeitmessung: Sonnenuhr

Uhrzeit und Zeitzonen

Der Witz dabei: Die Uhrzeit ist immer künstlich. Natürlich ist nur die biologische Zeit, und die kommt von der Sonne (genauer: davon, dass die Erde sich – um 23° schiefgestellt – um die Sonne dreht). Deshalb nannten unsere Vorfahren den Zeitpunkt, zu dem die Sonne am höchsten steht, Mittag, die Mitte des Tages – Menschen können diesen Zeitpunkt seit tausenden von Jahren bestimmen. Da sie den Tag in zweimal 12 Stunden eingeteilt haben, ist es am Mitt-Tag 12 Uhr. Nur wegen der wirtschaftlichen und verkehrstechnischen Verflechtung wurden am Ende des 19. Jahrhunderts 24 Zonenzeiten über je 15 Längengrade eingeführt, im Deutschen Reich am 1. 4. 1893. Die Mitteleuropäische Zeit (MEZ) ist die Lokalzeit des 15. Längengrades, in Deutschland liegt dort Görlitz. Das ist keine „Winterzeit“, sondern die (angenäherte) Sonnenzeit zwischen 7,5°Ost und 22,5° Ost, im Korridor der MEZ.

Tschernobyl – Framing für die Gesundheit

Die „Sommerzeit“ jedoch ist die Lokalzeit von – ja, St. Petersburg, Kiew oder Antalya. Das mag im Juli wenig auffallen, aber im März und im Oktober stört es fast alle, die morgens aufstehen müssen. Nur wer seine Innere Uhr mit der Sonne synchronisieren kann statt mit der EU-Uhr, kann darüber lachen, etwa der Arzt bei uns in Bayern, den die Süddeutsche vorgestellt hat. So einen Menschen habe ich letzten Freitag persönlich kennengelernt. Ich hatte einen Vortrag zum „Timing des Schlafens“ gehalten, in der Burgenlandklinik in Bad Kösen. Mittags sprach mich dann ein sehr freundlicher Psychiater an, ein gut gelaunter, ganz offensichtlich in sich ruhender Mensch. Er erzählte, dass er sich schon immer weigert, die falschen Uhrenvorgaben umzusetzen, er lebe einfach nach der Lokalzeit. Dieser Psychiater erzählte schmunzelnd, wie er das seinen Mitmenschen erklärt: Ihr richtet Euch im Sommer nach der Tschernobyl-Zeit, ich nach der Sonne. Das ist Framing, und geographisch ist es vollkommen korrekt: Tschernobyl liegt direkt nördlich von Kiew.

Winterschlaf – Kış Uykusu (Kinofilm, Türkei 2014)

Zum Film des türkischen Star-Regisseurs Nuri Bilge Ceylan über Menschen in Kappadokien

München: Die Isar in der Neujahrssonne 2015Dick verschneit war München an Neujahr und kalt. Als dann der Himmel völlig aufzog, konnten unsere Isarauen den Bergen Paroli bieten. Strahlende Sonne, tiefblauer Himmel und Schneelandschaft: Das lieferte noch durch die Sonnenbrille eine satte Dosis Lichttherapie, das Mittel gegen Winterdepression und Schlafstörungen, die mit dem zirkadianen Rhythmus zu tun haben.

München und Kappadokien

Es begann am 26. Dezember. Mehr als zehn Zentimeter Neuschnee fielen allein während der gut drei Stunden am späten Nachmittag, die Ceylans Film Kış UykusuWinterschlaf dauert. Münchens legendär souveräner Winterdienst kam erstmal nicht nach, die Gehsteige waren noch ungespurt.

Als wir am frühen Abend aus dem Kino kamen, fühlte es sich einige Sekunden an, als seien wir jetzt live im Film gelandet – mit jedem Schritt sank man im Schnee ein oder rutschte darauf aus.

Was in München eine Sache von Stunden ist, dauert im zentralanatolischen Kappadokien einen langen Winter. Der beginnt in diesem Film gerade, sich übers Land zu legen. Am Schluss ist die weite Berglandschaft dort genauso verschneit wie hier. Nur das Wetter ist anders als hier an Neujahr: Dort verdunkelt eine dichte Wolkendecke das Leben der wenigen Menschen. In dieser endlos-trüben Schnee-Landschaft ist ein SUV keine Waffe wie hier, sondern das einzige Auto, das die Pisten bewältigt. Der Zug ist ohnehin verspätet, die Gleise am Bahnhof verschneit und leer.

Winterschlaf – der Goldene-Palme-Film 2014

Winterschlaf - von Nuri Bilge CeylanIn dieses Kappadokien, wo gerade der Winter einbricht, setzt Nuri Bilge Ceylan seine Figuren: Im Mittelpunkt ein älteres Geschwisterpaar und die Gattin des Bruders – die seine Tochter sein könnte, wie die Schwester einmal ätzend anmerkt.

Alle drei sind aus dem weltläufig-internationalen Istanbul ins abgelegen-traditionelle Kappadokien gezogen, wo sie vorgeben, das familieneigene Höhlen-Hotel Olympia zu betreiben. Was tatsächlich die Angestellten tun, jedenfalls, bis der Schnee kommt. Der Bruder Aydın (Haluk Bilginer) war früher Schauspieler und versucht sich jetzt als Autor. Die Schwester Necla (Demet Akbag) ist gerade geschieden und langweilt sich. Die wunderschöne junge Ehefrau Nihal (Melisa Sözen) ist auf der Suche nach Sinn: mit einem Verein Einheimischer möchte sie die Schulen der Gegend instandsetzen.

Alle drei stoßen auf unterschiedliche Weisen mit den Ortsansässigen zusammen. Aydın und Necla sind zwar hier aufgewachsen. Doch nicht nur das Istanbul im Kopf trennt sie zuverlässig vom Rest dieser Welt, sondern auch die feudalistische Sozialstruktur: Aydın und Necla sind die Großgrundbesitzer. Nihal angeheiratet genauso. Ob er oder sie – man hat Geld und zeigt es auch, ärgert sich über rückständige Angestellte, kann Shakespeare rezitieren, säuft mit Gleichgesinnten bis zum Erbrechen, schickt Gerichtsvollzieher in arme Dorffamilien, zieht in kunstvollen Texten über den trampeligen Imam her usw. Die Verachtung für „die da unten“ verhindert jede echte Begegnung. Mit „denen“, doch auch untereinander.

Winterschlaf – Menschen in Erstarrung

Das Leben der einfachen Leute in Ceylans Film Winterschlaf ist trostlos und von unausweichlicher Armut geprägt. Damit gehen sie unterschiedlich um. Ein Ziel hat einzig der 10-jährige Bub: Der hängt sich in der Schule rein, um Polizist zu werden. Sein Vater dagegen, gerade aus dem Knast entlassen, pflegt seinen chancenlosen Macho-Stolz. Dessen Bruder, der Dorf-Imam, winselt sinnlos um Gnade in Sachen Mietrückstand. Die Oma greint nach ihrem gepfändeten Fernseher. Der Fahrer tritt nach „unten“.

Im Gegensatz zu ihnen haben es die Feudalen warm, sie tragen frische Kleidung, nutzen Auto und Computer, kaufen sich schon mal ein wildes Pferd oder „spenden“ sinnlos viel Geld. Welches wohl vorwiegend aus Miet- und Pachtzahlungen der Dorfbewohner stammt. Glücklich sind auch sie nicht. Sie verbringen ihre Tage gelangweilt, zufällig, mit Luxustätigkeiten und Luxusdisputen.

Tatsächlich laufen sie genau wie alle anderen auf Sparflamme, mit Minimalernergie; gerade so, dass sie nicht tot umfallen. Genau das kennzeichnet Tiere im Winterschlaf. Die fressen nicht, wenn sie sich in der warmen Erde einigeln. Dafür fahren sie Körpertemperatur und Stoffwechsel nach unten, bis knapp vor dem Tod.

Pups-1_Ausschnitt_GiroudWinterschlaf ist gerade kein Schlaf – die Tiere unterbrechen ihn sogar zwischendurch. Was tun sie während dieser Pausen? Nein, nicht fressen. Sie schlafen. Also: richtig schlafen (nebenan: Gartenschläfer-Junge beim Winterschlaf).

Auch Nihal möchte richtig schlafen. „Ich bin so müde“, sagt sie, und wirft Aydın aus dem Zimmer.

Warum „Winterschlaf“ ein genialer Titel für diesen Film ist

Die Goldene Palme von Cannes 2014 ist ein verdienter Preis für diesen Film. Schon der Titel ist genial, auf Türkisch wie auf Deutsch. Auf Englisch längst nicht so. Wintersleep bedeutet lediglich Schlaf im Winter. Normaler Schlaf, nicht Winterschlaf (der hieße hibernation).

Winterschlaf ist ein energetischer Minimalzustand, den Menschen eigentlich nicht einnehmen können. Außer vielleicht psychisch, und nur in sehr unwirtlichen Gegenden mit einer sehr unwirtlichen Sozialstruktur. Wie in Ceylans genialem Film.