Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt.

Vorwiegend psychologische Anmerkungen zu einem Bestseller.

Thomas Bauer: Die Vereeindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Reclam, 2018


„Die Vereindeutigung der Welt“ – den Titel könnte man fast genialisch nennen. Der Begriff „Welt“ suggeriert, dass man eine Art Philosophie des großen Ganzen erwarten kann. „Vereindeutigung“ markiert ziemlich eindeutig (sic!), dass Eindeutig-Sein negativ zu werten ist. Was der Begriff „Verlust“ im Untertitel bestätigt: Verschwundenes kann nur Verlust sein, wenn es positiv war – wer würde schon etwa das Verschwinden der Sklaverei aus Europa als „Verlust“ bezeichnen?

Unter diesem eindeutigen – durchaus sympathischen – Titel präsentiert der Münsteraner Islamwissenschaftler und Arabist Thomas Bauer zehn Kapitel zu seinem Spezialthema, der „Ambiguitätstoleranz„. Der Begriff Ambiguität kommt klassisch aus der Linguistik. Die beschreibt damit das Phänomen, dass Wörter den Kontext brauchen: in Kontext eins bedeuten sie dieses, in Kontext zwei etwas anderes. Die Psychologie hat das auf den Alltag und die menschliche Interaktion übertragen, wo fast alles mehrdeutig ist; entscheidungstheoretisch würde man „unsicher“ sagen. Menschen kommen unterschiedlich gut zurecht mit solchen Unsicherheiten bzw. Ambiguitäten. Wissenschaftlich-psychologisch gibt es sogar gewisse Hinweise darauf, dass, wer in Alltagsdingen wenig „Ambiguitätstoleranz“ aufbringt, etwas häufiger von erhöhter Ängstlichkeit geplagt ist.

Der Autor überträgt das auf ganze Kulturen, auch wenn er leider nicht positiv definiert, was er dort genau unter Ambiguitätstoleranz versteht. Dafür beschreibt er drei Aspekte, die für Kulturen der Ambiguitäts-in-toleranz typisch seien. Diese reklamierten erstens „die“ Wahrheit für sich, sie ignorierten zweitens die Geschichte, und sie strebten drittens nach Reinheit. In dem Bereich, für den Thomas Bauer wissenschaftlich ausgewiesen ist, dem religiösen, kennt man dieses Trio als „Fundamentalismus“. Heute seien IS und Konsorten derart gestrickt, so Bauer, historisch aber seien islamische Kulturen erheblich ambiguitätstoleranter gewesen als das christliche Abendland. Das klingt interessant, aber man hätte gerne neben dem Verweis auf sein gleichlautendes Buch (s.o.) auch noch ein paar konkrete Belege. Der Fundamentalismus habe einen Gegenpol, der genau wie dieser aus dem Streben nach Eindeutigkeit resultiere: die Gleichgültigkeit. Genau auf diesem Trip sei das heutige Europa.

Die Hagia Sophia. 1000 Jahre lang Symbol der christlichen Ostkirche. 1453 eindeutig zur Moschee gemacht.

Die Hagia Sophia in Istanbul. Sie war 1000 Jahre Symbol der christlichen Ostkirche. 1453, direkt nachdem er Konstantinopel erobert hatte, machte Sultan Mehmet II. die Hagia Sophie zur Moschee – eindeutig.

Der „Verlust“ der Ambiguität bzw. der Vielfalt (oft gleichgesetzt) zeige sich heute in allen Lebensbereichen, von den einheitlichen Monsanto-Tomaten bis zum Verschwinden vieler Sprachen in der Welt, vom Aussterben Tausender Arten in Flora und Fauna bis zur Werbung, die Uniformes als Individuelles verkauft. Diese Phänomene kennen (fast) alle und bedauern viele, die dazugehörige Kapitalismuskritik auch. Bauer verortet die Ursachen allerdings nicht in der Ökonomie, sondern in der (westlichen) Kultur.

Interessanterweise beklagt er, wissenschaftliche Expertise werde nicht mehr gewürdigt, was sich daran zeige, dass in Talkshows zum Islam häufig Nicht-„Islamwissenschaftler“ zu Wort kämen. Der Islamwissenschaftler TB tut das gleiche: Zwei von zehn Kapiteln widmet er der Musik und der Malerei des 20. Jahrhunderts. Dass Bauer dafür keine wissenschaftliche Expertise hat, zeigt sich leider fast in jedem Satz.

Graffito in München:
Eindeutig? Mehrdeutig? „Moderne Kunst“?

Eine der wichtigsten Folgen des (abendländischen) Vereindeutigungsstrebens sieht Bauer darin, dass alles und jedes in „identitäre „Kästchen“ sortiert werde. Beispiele: Die kulturalistische „Rassen“theorie des Nazis Ludwig Clauß, der interessant-skurril, aber für die Nazis letztlich irrelevant war. Die Monsanto-Einheits-Tomatensorten, die halt besonders profitabel sind. Die Homosexualität, die nicht als Handlungsoption gehandelt werde, sondern als „Kästchen“ – in der Psychologie würde man sagen: als Persönlichkeitsmerkmal. Dabei zitiert er allen Ernstes eine Neu-„Definition“ von sexistisch, die plötzlich mit (männlicher) Homo- bzw. Heterosexualität zu tun hat statt mit Frauen und Männern. Womit das Thema „Frauen und Eindeutigkeit“ elegant entsorgt wäre, einschließlich deren Schicksal im ambiguitätstoleranten Islam damals wie heute.

Schließlich geißelt er das, was er „Authentizitätswahn“ nennt. Ob Wein oder Politiker: alles müsse heute authentisch sein – ein Eindruck, den er auf Zeitungsartikel gründet, nicht auf wissenschaftliche Studien. Zum Begriff „Wahn“ möchte man ihm allerdings gerne die Hilfestellung des Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit empfehlen.

Zum Schluss plädiert Bauer dafür, Toleranz für Mehrdeutigkeit zu trainieren, etwa mit mehr Kunst und Musik in der Schule, was ihm viel Lob eingetragen hat. Dem kann man uneingeschränkt zustimmen, wobei sich die Frage stellt, wie er gleichzeitig die gesamte zeitgenössische Kunst als Beleg für die böse Vereindeutigung hernehmen kann – und dann als Heilmittel mehr davon fordern. Denn Musik, bildende Kunst und alle, die sie ausüben, leben im Heute, sind also modern. Gleichzeitig wurzeln sie – und in der Regel sehr bewusst – in der gesamten Kunst- und Musikgeschichte.

Die teils hymnischen Besprechungen dieses Textes in der Publikumspresse und im Netz lassen einen logisch-wissenschaftlich denkenden Menschen etwas ratlos zurück. Die Fachleute für seine Beispiele jedenfalls hüllen sich weitgehend in Schweigen: Philosophen, Psychologen, Musiker und Kunsthistoriker.

Die „Entkriminalisierung“ des Schlafs

Neu ist es nicht, dass Schlaf als Zeitverschwendung betrachtet wird, als überflüssig oder einfach lasziv. Seit Jahrhunderten versprechen sich Menschen, religiös oder spirituell weiterzukommen, wenn sie weniger schlafen. Seit jedoch Calvin und andere Protestanten der strengeren Provenienz in Mittel- und Nordeuropa an Einfluss gewannen, begann man, den Schlaf generell zu verachten. Max Weber weist darauf hin. In seiner 1912 erschienenen Studie „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ arbeitet er heraus, dass dieser Ethik gemäß ein gottgefälliges Leben mit Arbeit gefüllt ist, was sich im finanziellen Erfolg widerspiegelt. Mit dabei: wenig Schlaf. Max Weber zitiert Richard Baxter, einen Puritaner aus dem 17. Jahrhundert, der schreibt: „Zeitverlust durch Geselligkeit, »faules Gerede«, Luxus, selbst durch mehr als der Gesundheit nötigen Schlaf – 6 bis höchstens 8 Stunden – ist sittlich absolut verwerflich.“

Mit der „Sittlichkeit“ haben wir es heute nicht mehr so. Und dennoch gilt viel Schlaf als unmoralisch, ja bereits Baxters „sechs bis acht Stunden“ sprechen vielen schon für zweifelhafte Leistungsbereitschaft. Sie bewundern Leute, die wenig schlafen, gerne auch selbst – einige Einträge in diesem Blog befassen sich bereits damit.

Olaf Tscharnezki hat diese Negativhaltung wunderbar auf den Begriff gebracht: „Kriminalisierung des Schlafs“. Tscharnezki ist kein Spinner und kein Mitglied der Müßiggänger-Fraktion. Er ist Betriebsarzt, und zwar bei Unilever. Dort betreibt er, wie er in einem Interview für die „Initiative neue Qualität der Arbeit“ erklärt, die „Entkriminalisierung von Schlaf“. Konkret: Er hat in der Hamburger Zentrale eine „Ruheoase“ eingerichtet. Dort „dürfen“ sich Mitarbeiter erholen und sogar ein kleines Tagschläfchen halten, ohne gleich schief angeschaut zu werden. Tscharnezki konnte das durchsetzen, weil die Leute vor wenigen Jahren massiv vom Stress geplagt waren – 60 Prozent, fast zwei von drei Mitarbeitenden, klagten damals über schlechten Schlaf.

Nun können Schlafstörungen vielerlei Gründe haben. Doch sehr oft haben sie tatsächlich mit Stress am Arbeitsplatz zu tun. Der steigt, wenn die Leute über den Tag von ihrem Anspannungspegel nicht herunterkommen, und er steigt noch mehr, wenn sie abends an ihren Schreibtischen festkleben. Wer so arbeitet, kann abends nur schwer abschalten. Doch ausgerechnet Abschalten ist unerlässlich, um gut zu schlafen. Schlafen heißt, dass der Kopf „herunterfährt“. Das tut er nicht auf Befehl und schon gar nicht schnell. Dafür braucht er Zeit, und, wenn man so will, Übung: das sind die Pausen während des Tages. Möglicherweise in der Ruheoase.