Der freie Sonntag und die Kunst der Pause

Momentan streitet man in München vor Gericht um die Frage, ob am Sonntag des Stadtgründungsfestes im Juni die Innenstadtläden geöffnet haben dürfen/können/sollen. Die Süddeutsche Zeitung (nur in der Print-Ausgabe) trommelte dafür: Sei doch kein Problem, die Leute meldeten sich freiwillig, und es sei doch nur ein Sonntag im Jahr. Trotzdem: Betriebsräte stellten sich quer, die Kirchen sowieso, die Klage läuft. Motto: „Rettet den Sonntag!“ Hängen die ewig Gestrigen am Falschen? Pflegen sie Gewohnheiten statt Neues zu wagen? Ist das Verkrustung statt Innovation?

Ist Sonntagsarbeit innovativ, also gut?

Zerschlagen - Kulturrevolution

Zerschlagen – Kulturrevolution

Innovation gilt als an sich gut, sie treibe die Wirtschaft an, heißt es. Sollte man nicht doch genauer hinschauen, was da anders werden soll? Sollte man nicht vorher denken und prüfen, was genau von Übel ist? Ich jedenfalls muss bei Preisliedern auf Neues an sich immer an China denken. Als ich vor einigen Jahren dort war, konnte man immer noch Folgen des „Weg mit dem Alten“ besichtigen. Es war nämlich auch Maos Kernbotschaft vor 50 Jahren, als er “die Jugend” zur “Kulturrevolution” rief und sie aufforderte, alles kurz und klein zu schlagen, was die chinesische Kultur in fünftausend Jahren aufgebaut hatte. Leider nahm die Jugend das wörtlich, schon vor 50 Jahren kannte die Zerstörungswut aufgepeitschter, autoritärer Kinder keine Grenzen. Vielerorts blieben Überreste erhalten wie auf dem Foto, das vom Westsee bei Hangzhou stammt.

Materielle Kultur kann man anschauen, Kunstwerke zum Beispiel. Immaterielle Kulturgüter kann man nur anhören, spüren oder sonstwie erleben, von Musik über Bildung bis zur Höflichkeit. Ein Kulturgut der besonderen Art ist der arbeitsfreie Sonntag. Wer ihn erleben kann und sozial nicht völlig isoliert ist, versteht das mit dem Kulturgut. Wer shoppen für einen Lebensinhalt hält, versteht es weniger. Freier Sonntag heißt: gemeinsam Zeit haben. Im 19. Jahrhundert trafen sich die Münchner Hausangestellten an einem Sonntag im Jahr zum „Kocherlball“, früh um 5, damit die Herrschaft ihren Sonntagsbraten trotzdem rechtzeitig bekam. Inzwischen ist der Kocherlball ein Event am dritten Sonntag im Juli am Chinesischen Turm (siehe Foto). Heute für die, die sonntags frei haben, grade nicht wie die „Kocherl“, die hinterher arbeiten mussten.

Kocherlball München

Kocherlball am Chinesischen Turm in München

Kulturgut Sonntag

In manchen Branchen ist Sonntagsarbeit notwendig, etwa bei der Polizei, in Krankenhäusern oder im Theater. Sie müssen ihre Leute am Sonntag aber besser bezahlen und ihnen zu anderen Zeiten frei geben. Doch das ist nicht mit einem freien Tag vergleichbar, an dem die anderen auch frei haben.

Der Mensch ist keine Maschine (und, ceterum censeo, sein Gehirn ist kein Computer). Der Mensch ist ein biologisches Wesen, und das kann nicht ständig auf 150 sein, selbst wenn es ständig Energie tankt. Er unterliegt diversen biologischen Rhythmen. Die kann man zwar flexibel handhaben, aber wer sie zu lange ignoriert, wird krank. Einer dieser Rhythmen dauert ungefähr sieben Tage. Der Sonntag markiert ihn gewissermaßen sozial, er setzt sozial eine Pause, und die benötigen wir auch psychisch und physisch. Der arbeitsfreie Sonntag verordnet sich uns allen als gemeinsame Pause. Er stellt Zeit zur Verfügung – neudeutsch: ein Zeitfenster –, und diese Zeit können ganze Familien und Freundeskreise gemeinsam nutzen, und das sogar spontan. Man muss sich nicht drei Jahre zuvor darauf verständigen, sich da Urlaub zu nehmen. Der freie Sonntag entspannt. Alle, auch das Verkaufspersonal. Anders ist es höchstens bei den ganz Einsamen; aber das ist eine andere Geschichte.

Die Kunst der Pause – über den Tag verteilt

Pausen über den Tag haben mit Stundenrhythmen zu tun. Wie es darum steht, schreibe ich demnächst – und am 5. Juni halte ich einen Vortrag darüber im Münchner Gasteig. Das ist ein Sonntag. Zu shoppen gibt es nichts bei mir. Nur zu denken, vergnüglich natürlich. Uhrzeit: 11 Uhr vormittags.