„Einzig und allein mein Fehler“ – Chronobiologie einer Entscheidung

Eine „Osterruhe“ hatten sie geplant, Kanzlerin und MPs, um die dritte Corona-Welle in den Griff zu bekommen. Dann der Knall: gestern mittag nahm Angela Merkel das Ganze zurück. Am Tag nach der überlangen Digitalsitzung hatte die Verwaltung festgestellt, dass sich fünf statt drei „Osterfeiertage“ rechtlich nicht organisieren lassen. Abgesehen davon, dass eine Maßnahme mit zehn Tagen Verzögerung sowieso nicht mehr das bewirken kann, was man vielleicht an Tag Null erwarten könnte.

Chronobiologie und die Osterruhe-Entscheidung

Nun geht es auf diesem Blog vorrangig um Schlaf und Chronobiologie, nicht um Mathematik oder Epidemiologie. Doch das Wissen aus Schlaf und Chronobiologie hat etwas ziemlich Basales beizutragen zu dieser „Osterruhe“-Geschichte und der Tatsache, dass sie in der Nacht erfunden wurde. Das ist noch dazu extrem gut abgesichert. Es will bloß selten jemand hören – Stichwort 24/7-Gesellschaft.

Kanzlerin Merkel und die MPs trafen sich natürlich digital, und zwar am frühen Nachmittag. Mehr als zwölf Stunden später – sie hatten erheblich länger getagt, als nach Arbeitsschutzgesetz zulässig – gingen sie vor die Presse und berichteten unter anderem über die „neuen“ Feiertage. Es war halbdrei Uhr nachts.

Tageszeiten, Müdigkeit und Chronobiologie

Leider sind die zwei Stunden um halbdrei nachts herum chronobiologisch ungefähr der allerschlimmste Zeitraum, um geistig leistungsfähig zu sein. Da ist die Körpertemperatur am niedrigsten, die Stimmung schlechter als sonst und die Denkfähigkeit sowieso im Keller. Nicht einmal gesunde Abendtypen sind da noch fit. Um diese Zeit machen Menschen die meisten Fehler, egal bei welcher Tätigkeit. Sogar fast alle großen Katastrophen, die auf „menschliches Versagen“ zurückgingen, fanden um diese Tageszeit statt – von Tschernobyl und Exxon Valdez bis zu den meisten spektakulären Verkehrsunfällen. Grund: Unaufmerksamkeit wegen Müdigkeit und Mikroschläfchen. Natürlich versuchen immer einige „vorzuschlafen“. Leider funktioniert das nicht wirklich: Schlaf lässt sich nicht bunkern. Die Literatur dazu habe ich mal auf ZEIT-online zusammengefasst.

Kein Zeitpunkt für Entscheidungen – Übermüdet vor Milano Centrale

Außerdem waren um halbdrei (fast?) alle seit mehr als 20 Stunden wach. Nach so langer Zeit ist die Konzentration bereits unabhängig von der Tageszeit schlechter. Wer 21 Stunden wach war, ist so leistungsfähig wie mit 0,65 Promille Alkohol im Blut. Darf man damit noch Autofahren? Seit 2001 nicht mehr, und das mit Recht. Nach 22 Stunden bringt man es auf eine Konzentration wie bei 0,8 Promille Alkohol (genauer: hier). Damit durfte man seit 1973 nicht Autofahren.

Nächtliche Entscheidungen oft schlecht

Deshalb wundert es mich nicht sonderlich, wenn in einem solchen mentalen Zustand niemand wirklich rauszufinden versucht, ob es überhaupt machbar ist, mal schnell einen zusätzlichen „Feiertag“ zu dekretieren. Egal wie „hochkarätig“ und „leistungsstark“ Politiker sein mögen: Sie sind Menschen, also biologische Wesen und keine Maschinen. Auch ihr Urteilsvermögen ist um halbdrei nachts erheblich schlechter als tagsüber. Jetzt hat sich Merkel entschuldigt, eine durchaus noble Geste. Besser wäre, alle hätten sich verpflichtet, kürzer zu tagen. Noch besser: nachts schlafen gehen. Damit sie danach mit klarem Kopf entscheiden können. Doch dieser Zug der biologischen Vernunft scheint abgefahren.

Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt.

Vorwiegend psychologische Anmerkungen zu einem Bestseller.

Thomas Bauer: Die Vereeindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Reclam, 2018


„Die Vereindeutigung der Welt“ – den Titel könnte man fast genialisch nennen. Der Begriff „Welt“ suggeriert, dass man eine Art Philosophie des großen Ganzen erwarten kann. „Vereindeutigung“ markiert ziemlich eindeutig (sic!), dass Eindeutig-Sein negativ zu werten ist. Was der Begriff „Verlust“ im Untertitel bestätigt: Verschwundenes kann nur Verlust sein, wenn es positiv war – wer würde schon etwa das Verschwinden der Sklaverei aus Europa als „Verlust“ bezeichnen?

Unter diesem eindeutigen – durchaus sympathischen – Titel präsentiert der Münsteraner Islamwissenschaftler und Arabist Thomas Bauer zehn Kapitel zu seinem Spezialthema, der „Ambiguitätstoleranz„. Der Begriff Ambiguität kommt klassisch aus der Linguistik. Die beschreibt damit das Phänomen, dass Wörter den Kontext brauchen: in Kontext eins bedeuten sie dieses, in Kontext zwei etwas anderes. Die Psychologie hat das auf den Alltag und die menschliche Interaktion übertragen, wo fast alles mehrdeutig ist; entscheidungstheoretisch würde man „unsicher“ sagen. Menschen kommen unterschiedlich gut zurecht mit solchen Unsicherheiten bzw. Ambiguitäten. Wissenschaftlich-psychologisch gibt es sogar gewisse Hinweise darauf, dass, wer in Alltagsdingen wenig „Ambiguitätstoleranz“ aufbringt, etwas häufiger von erhöhter Ängstlichkeit geplagt ist.

Der Autor überträgt das auf ganze Kulturen, auch wenn er leider nicht positiv definiert, was er dort genau unter Ambiguitätstoleranz versteht. Dafür beschreibt er drei Aspekte, die für Kulturen der Ambiguitäts-in-toleranz typisch seien. Diese reklamierten erstens „die“ Wahrheit für sich, sie ignorierten zweitens die Geschichte, und sie strebten drittens nach Reinheit. In dem Bereich, für den Thomas Bauer wissenschaftlich ausgewiesen ist, dem religiösen, kennt man dieses Trio als „Fundamentalismus“. Heute seien IS und Konsorten derart gestrickt, so Bauer, historisch aber seien islamische Kulturen erheblich ambiguitätstoleranter gewesen als das christliche Abendland. Das klingt interessant, aber man hätte gerne neben dem Verweis auf sein gleichlautendes Buch (s.o.) auch noch ein paar konkrete Belege. Der Fundamentalismus habe einen Gegenpol, der genau wie dieser aus dem Streben nach Eindeutigkeit resultiere: die Gleichgültigkeit. Genau auf diesem Trip sei das heutige Europa.

Die Hagia Sophia. 1000 Jahre lang Symbol der christlichen Ostkirche. 1453 eindeutig zur Moschee gemacht.

Die Hagia Sophia in Istanbul. Sie war 1000 Jahre Symbol der christlichen Ostkirche. 1453, direkt nachdem er Konstantinopel erobert hatte, machte Sultan Mehmet II. die Hagia Sophie zur Moschee – eindeutig.

Der „Verlust“ der Ambiguität bzw. der Vielfalt (oft gleichgesetzt) zeige sich heute in allen Lebensbereichen, von den einheitlichen Monsanto-Tomaten bis zum Verschwinden vieler Sprachen in der Welt, vom Aussterben Tausender Arten in Flora und Fauna bis zur Werbung, die Uniformes als Individuelles verkauft. Diese Phänomene kennen (fast) alle und bedauern viele, die dazugehörige Kapitalismuskritik auch. Bauer verortet die Ursachen allerdings nicht in der Ökonomie, sondern in der (westlichen) Kultur.

Interessanterweise beklagt er, wissenschaftliche Expertise werde nicht mehr gewürdigt, was sich daran zeige, dass in Talkshows zum Islam häufig Nicht-„Islamwissenschaftler“ zu Wort kämen. Der Islamwissenschaftler TB tut das gleiche: Zwei von zehn Kapiteln widmet er der Musik und der Malerei des 20. Jahrhunderts. Dass Bauer dafür keine wissenschaftliche Expertise hat, zeigt sich leider fast in jedem Satz.

Graffito in München:
Eindeutig? Mehrdeutig? „Moderne Kunst“?

Eine der wichtigsten Folgen des (abendländischen) Vereindeutigungsstrebens sieht Bauer darin, dass alles und jedes in „identitäre „Kästchen“ sortiert werde. Beispiele: Die kulturalistische „Rassen“theorie des Nazis Ludwig Clauß, der interessant-skurril, aber für die Nazis letztlich irrelevant war. Die Monsanto-Einheits-Tomatensorten, die halt besonders profitabel sind. Die Homosexualität, die nicht als Handlungsoption gehandelt werde, sondern als „Kästchen“ – in der Psychologie würde man sagen: als Persönlichkeitsmerkmal. Dabei zitiert er allen Ernstes eine Neu-„Definition“ von sexistisch, die plötzlich mit (männlicher) Homo- bzw. Heterosexualität zu tun hat statt mit Frauen und Männern. Womit das Thema „Frauen und Eindeutigkeit“ elegant entsorgt wäre, einschließlich deren Schicksal im ambiguitätstoleranten Islam damals wie heute.

Schließlich geißelt er das, was er „Authentizitätswahn“ nennt. Ob Wein oder Politiker: alles müsse heute authentisch sein – ein Eindruck, den er auf Zeitungsartikel gründet, nicht auf wissenschaftliche Studien. Zum Begriff „Wahn“ möchte man ihm allerdings gerne die Hilfestellung des Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit empfehlen.

Zum Schluss plädiert Bauer dafür, Toleranz für Mehrdeutigkeit zu trainieren, etwa mit mehr Kunst und Musik in der Schule, was ihm viel Lob eingetragen hat. Dem kann man uneingeschränkt zustimmen, wobei sich die Frage stellt, wie er gleichzeitig die gesamte zeitgenössische Kunst als Beleg für die böse Vereindeutigung hernehmen kann – und dann als Heilmittel mehr davon fordern. Denn Musik, bildende Kunst und alle, die sie ausüben, leben im Heute, sind also modern. Gleichzeitig wurzeln sie – und in der Regel sehr bewusst – in der gesamten Kunst- und Musikgeschichte.

Die teils hymnischen Besprechungen dieses Textes in der Publikumspresse und im Netz lassen einen logisch-wissenschaftlich denkenden Menschen etwas ratlos zurück. Die Fachleute für seine Beispiele jedenfalls hüllen sich weitgehend in Schweigen: Philosophen, Psychologen, Musiker und Kunsthistoriker.

Europäische Union (EU), Mitteleuropäische Zeit (MEZ) und politisches Framing

Am letzten März-Wochenende habe ich auf ZEIT-online zusammengefasst, wie es die Gesundheit beeinträchtigt, dass wir bisher zweimal jährlich die Uhren umstellen mussten. Das können Sie hier anklicken.

EU-Umfrage zur sogenannten Zeit-Umstellung

Echte Zeit oder MESZ? Nicht erkennbar.

Echte Zeit oder MESZ? Nicht erkennbar.

Mit kleinen Veränderungen finden Sie den Text auch hier, weil ihn die Redaktion erneut hochgeladen hat, nachdem die Ergebnisse der EU-Umfrage zur Uhrenumstellung bekannt waren. Die EU-Kommission hatte die 512 Millionen EU-Bürger dazu online befragt, geantwortet haben lausige 4,6 Millionen, davon drei Millionen aus Deutschland. Die übergroße Mehrheit, vier von fünf, plädierte dafür, die Uhren nicht mehr umzustellen. Ich natürlich auch.

All denen, die keine Uhrenumstellung wollten, hatte die EU-Kommission noch eine zweite Frage gestellt: Sie fragte, ob sie lieber ständig „Winterzeit“ oder ständig „Sommerzeit“ haben wollten.

Politisches Framing

Diese zweite Frage ist suggestiv. Früher nannte man so etwas Propaganda, heute vornehmer „Politisches Framing„. Mit dem Thema „Framing“ wurde die US-Professorin Elisabeth Wehling, die aus Hamburg stammt, bekannt: Sie wendet ein psychologisches Phänomen auf die Sprache der Politik an. Es war Daniel Kahneman, der den Begriff in der Psychologie erstmals benutzte. Er ist ebenfalls US-Professor und außerdem bekam er 2002 den „Preis der Bank von Schweden“, einen Wirtschaftspreis, der als Analogon zum Nobelpreis gilt. Er bekam ihn dafür, dass er empirisch belegte: der Mensch hat, anders als die Ökonomie behauptet, außer seinem persönlichen Profit noch eine Menge anderes im Sinn.

Daniel Kahneman ist Psychologe und er hat in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ viele „Framing“-Geschichten beschrieben. Die laufen oft auf Szenarien dieser Art hinaus: Wenn man Menschen erzählt, eine Sache gehe mit 90 Prozent Wahrscheinlichkeit gut aus, entscheiden sie sich meistens dafür; erzählt man ihnen, das Risiko des Scheiterns der gleichen Sache betrage 10 Prozent, lassen sie die Finger davon. Dabei ist das Risiko in beiden Fällen exakt gleich. Aber die meisten Menschen nehmen ein Bild als völlig anders wahr, je nachdem, ob man den Scheinwerfer auf das Positive richtet oder auf die Gefahr. Das ist der Rahmen; er verändert ihr subjektives Bild so stark, dass sie die Entscheidung daran ausrichten, wie das Bild gerahmt ist.

Framing Sommer, Framing Winter

Genau das passierte notwendig bei der EU-Befragung. Sommerzeit – diesen Begriff sieht man unwillkürlich in dem „Rahmen“ Sommer, Sonne, Urlaub, blaues Meer oder zumindest Biergarten und lange, laue Abende draußen. Zum „Rahmen“ für Winterzeit dagegen gehört Kälte, Dunkelheit, Heizen, Innenräume und schlechte Verkehrsverhältnisse. Da wundert man sich nicht darüber, was so viele aus Deutschland wählten, vermutlich vorwiegend Kinderlose und Leute mit Normalarbeitszeiten.

Die einzige "echte" Zeitmessung: Sonnenuhr

Einzig „echte“ Zeitmessung: Sonnenuhr

Uhrzeit und Zeitzonen

Der Witz dabei: Die Uhrzeit ist immer künstlich. Natürlich ist nur die biologische Zeit, und die kommt von der Sonne (genauer: davon, dass die Erde sich – um 23° schiefgestellt – um die Sonne dreht). Deshalb nannten unsere Vorfahren den Zeitpunkt, zu dem die Sonne am höchsten steht, Mittag, die Mitte des Tages – Menschen können diesen Zeitpunkt seit tausenden von Jahren bestimmen. Da sie den Tag in zweimal 12 Stunden eingeteilt haben, ist es am Mitt-Tag 12 Uhr. Nur wegen der wirtschaftlichen und verkehrstechnischen Verflechtung wurden am Ende des 19. Jahrhunderts 24 Zonenzeiten über je 15 Längengrade eingeführt, im Deutschen Reich am 1. 4. 1893. Die Mitteleuropäische Zeit (MEZ) ist die Lokalzeit des 15. Längengrades, in Deutschland liegt dort Görlitz. Das ist keine „Winterzeit“, sondern die (angenäherte) Sonnenzeit zwischen 7,5°Ost und 22,5° Ost, im Korridor der MEZ.

Tschernobyl – Framing für die Gesundheit

Die „Sommerzeit“ jedoch ist die Lokalzeit von – ja, St. Petersburg, Kiew oder Antalya. Das mag im Juli wenig auffallen, aber im März und im Oktober stört es fast alle, die morgens aufstehen müssen. Nur wer seine Innere Uhr mit der Sonne synchronisieren kann statt mit der EU-Uhr, kann darüber lachen, etwa der Arzt bei uns in Bayern, den die Süddeutsche vorgestellt hat. So einen Menschen habe ich letzten Freitag persönlich kennengelernt. Ich hatte einen Vortrag zum „Timing des Schlafens“ gehalten, in der Burgenlandklinik in Bad Kösen. Mittags sprach mich dann ein sehr freundlicher Psychiater an, ein gut gelaunter, ganz offensichtlich in sich ruhender Mensch. Er erzählte, dass er sich schon immer weigert, die falschen Uhrenvorgaben umzusetzen, er lebe einfach nach der Lokalzeit. Dieser Psychiater erzählte schmunzelnd, wie er das seinen Mitmenschen erklärt: Ihr richtet Euch im Sommer nach der Tschernobyl-Zeit, ich nach der Sonne. Das ist Framing, und geographisch ist es vollkommen korrekt: Tschernobyl liegt direkt nördlich von Kiew.

Mehr falsche Geständnisse nach Schlafentzug

Der Schlaf und die Psychologie kognitiver Leistungen werden schon länger gemeinsam untersucht. Diese Forschung hat gezeigt, wie (wenig) leistungsfähig Menschen sind, die nicht ausgeschlafen sind oder einfach zu lange auf den Beinen waren. Auch ich habe auf diesem Blog schon öfter etwas dazu geschrieben.

Wenn ich in einem Vortrag graphisch zeige, wie sich die Konzentrationsfähigkeit mit jeder Stunde Wachsein verändert (hier keine Graphik, sorry), dann ziehen die Leute regelmäßig die Luft durch die Zähne: Nach 23 Stunden Wachsein sind wir nämlich so „gut“ konzentriert wie mit einem vollen Promille Alkohol im Blut.

Mythos - keine falsche Erinnerung

Mythos – keine falsche Erinnerung

Falsche Erinnerungen

Ein Teil der Gedächtnispsychologie befasst sich mit „falschen Erinnerungen“ (z.B. Kapitel 3 in „Das Gedächtnis. Die etwas andere Gebrauchsanweisung„). Das sind Erinnerungen an unser eigenes Leben, die verdreht, verändert, ausgeweitet, verkürzt oder manchmal frei erfunden sind. Das hat verschiedene Gründe. Etwa: wir speichern Lebens-Erinnerungen nicht eins zu eins ab, sondern vor allem das Gerüst, den roten Faden (engl.: gist). Beim Abruf können dann Fehler passieren, je plausibler, umso wahrscheinlicher. Ein anderer: wir können uns viele Geschichten ausdenken. Je intensiver wir das tun, umso unsicherer werden wir, ob es nicht doch wirklich so passiert ist. Das kann man sogar psychotherapeutisch nutzen. Ein dritter: wir sind soziale Wesen. Wenn uns eine vertrauenswürdige Person versichert, wir hätten dann und dann dies oder jenes gesagt oder getan, dann nehmen das einige schon mal für bare Münze. Das ist dann eine induzierte falsche Erinnerung. Oder Suggestion.

Wann entstehen falsche Erinnerungen besonders leicht?

Nun ist es interessant, ob solche Suggestionen bei bestimmten Persönlichkeiten auf besonders fruchtbaren Boden fallen, oder ob sie in bestimmten Situationen häufiger sind. Gerade eben hat eine Arbeitsgruppe um Elizabeth Loftus, die Grande Dame der „False-memory“-Forschung, eine solche Studie vorgestellt. Sie nimmt den Schlaf in den Blick – und falsche Geständnisse.

Schlafentzug macht falsche Geständnisse sehr viel wahrscheinlicher

Die Probanden bearbeiteten abends eine Aufgabe. Sie wurden eindringlich davor gewarnt, auf die esc-Taste zu drücken. Taten sie auch nicht. Nun durfte die Hälfte in der nachfolgenden Nacht ganz normal schlafen, die andere nicht. Nach einer durchwachten Nacht ließen sich die Leute mit dreimal so hoher Wahrscheinlichkeit einreden, doch auf escape gedrückt zu haben, als nach normalem Schlaf. Ganz besonders anfällig dafür war, wer generell dazu neigt, impulsiv zu urteilen. Impulsiv urteilt, wer sehr schnell urteilt, ohne nochmal kritisch die Fakten zu checken.

Generell gestehen Menschen, die suggestiv verhört werden, sogar kriminelle Handlungen, die sie gar nicht begangen haben. In den USA, sagt die Studie, falle mindestens jedes sechste Geständnis unter die „falschen“. Nach dieser Studie nun muss man damit rechnen, dass unter Schlafentzug ein falsches Geständnis noch viel wahrscheinlicher ist. Wer also zulässt, dass unausgeschlafene Angeklagte verhört werden, womöglich noch mit suggestiven Methoden, riskiert den Rechtsstaat.

Einsam wacht die Chefetage

Albert Einstein und Johann Wolfgang von Goethe hätten im Deutschland von 2011 wenig Aussicht auf eine herausragende Position, egal in welcher Branche. Die beiden beharrten nämlich auf ihrem täglichen Zehn-Stunden-Schlaf. So jemand, versichert zumindest jede dritte der 500 Highest-Level-Führungskräfte Deutschlands, die das Allensbacher Institut kürzlich in seinem „Capital-Spitzenkräfte-Panel“ befragte, wird es gar nicht erst in die höheren Hierarchieebenen deutscher Institutionen schaffen.

Die Chefs bzw. Spitzenkräfte aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung selbst jedenfalls schlafen regelmäßig weniger, als sie gerne schlafen würden – im Durchschnitt kommen sie auf sechs Stunden und sechzehn Minuten. Kann das ausreichen? Oder umgekehrt: Hat das Folgen? Immerhin schlafen sie damit ziemlich exakt eine Stunde weniger als die Deutschen allgemein – und wer als Medium über die Meldung berichtet, sagt meist „Deutsche Chefs schlafen zu wenig“. Dabei blieb es dann meistens.

Leider ist der kurze Schlaf keineswegs das Privatproblem der „Spitzenkräfte“, selbst wenn sie ihren Schlaf „nur“ absichtlich kappen und (noch) keine Schlafstörungen haben (deren Häufigkeit steigt linear mit der Arbeitsbelastung). In den letzten Jahren hat sich die Schlafforschung nämlich intensiv damit beschäftigt, was der gute Schlaf mit mentalen Fähigkeiten zu tun hat, mit kognitiven wie emotionalen. Und das ist eine ganze Menge. Wer immer zu Protokoll gibt, gerne „mehr zu schlafen“, tut das, weil er oder sie sich tagsüber müde oder sehr müde fühlt. So jemand leidet unter chronischem Schlafmangel.

Eine ganze Reihe experimenteller Studien hat empirisch überprüft, was dabei passiert (ein relativ aktuelles Beispiel hier, über weitere werde ich sukzessive an dieser Stelle berichten). Das Ergebnis: Die geistige Leistung sinkt teilweise erheblich, Entscheidungen werden zufälliger getroffen. Abgesehen davon, dass die Stimmung der Betroffenen leidet. Da nun die Leistungsanforderungen gerade von „Spitzenkräften“ zweifellos mentaler Natur sind, sollten wir alle ein Interesse daran haben, dass diese Leute ausgeschlafen sind. Die Folgen der schläfrigen Chefetage baden nämlich alle aus: Von falschen Entscheidungen über erstaunliche Kommunikationsweisen bis hin zu gesundheitlich riskanten und inhaltlich inadäquaten Anforderungen an Mitarbeiter. Nicht zuletzt solche, über die wir auf der „Permanent-online?!“-Tagung in Tutzing gesprochen haben – siehe Eintrag vom 31.7.

Es hilft nichts: Wenig schlafen ist weder heldenhaft noch ehrenvoll und schon gar nicht intelligent. Es macht statt dessen dumm und unflexibel. Auch Chefs. Irgendwann dazu mehr in diesem Blog.

Dass es nebenbei auch noch krank macht, steht auf einem anderen Blatt (dazu hat Burkhart Röper schon ein paar Worte auf seinem Blog verloren) .