Zu Tibor Rode: Das Morpheus-Gen. Wenn du schläfst, bist du tot. Thriller

Schlaf als Protagonist eines Thrillers! Ausgerechnet Schlaf? Auf den ersten Blick ist das widersinnig, doch Tibor Rodes Logik ist bestechend: Wer wenig oder extrem wenig Schlaf braucht, kann den Rest der Welt ausstechen, verdient mehr Geld, wird weniger ausgetrickst, kann sogar mehr Verbrechen begehen. Im richtigen Leben verachten deshalb nicht zuletzt die sogenannten und selbsternannten Leistungsträger den Schlaf. Was würden sie nicht alles tun, um mit weniger auszukommen. Wie das Militär träumen sie von der ultimativen Wachpille oder wie Edison hoffen sie, dass sich ihr Schlafbedürfnis durch die 24-Stunden-Beleuchtung irgendwann von selbst verflüchtigt. Die Pharmaindustrie ist dran, bisher allerdings sind ihre Erfolge überschaubar. Doch wie wäre es mit der Molekularbiologie? Zum Beispiel mit einem „Morpheus-Gen“, benannt nach dem griechischen Gott des Traumes?

Der junge Wirtschaftsanwalt David Berger jedenfalls erlebt eines Tages, dass er extrem lange wach ist. Sein Freund hat ihm zwar eine Wachpille gegeben, damit er über seinem neuen, extrem umfangreichen und dringenden Fall nicht einschläft. Doch diese Wachheit katapultiert ihn gleichzeitig in eine Kaskade sich überschlagender Ereignisse. Dazu gehört ein Besuch bei einem hochnäsigen Arzt im Schlaflabor, eine Jagd durch den New Yorker (nicht nur) U-Bahn-Untergrund und vor allem das verstörende Wissen, dass die New Yorker Polizei nach ihm fahndet.

Alle Indizien deuten nämlich darauf hin, dass er am Tag zuvor seine Freundin und seinen besten Freund ermordet hat. Da er keine Möglichkeit sieht, den Verdacht zu entkräften, nimmt er das merkwürdige Angebot eines vornehmen Herrn an: einen gefälschten Pass und ein auf diesen Namen ausgestelltes Flugticket nach Berlin. Dort hat ihm nämlich sein längst verstorbener Vater, den er nie kennengelernt hat, ein Vermächtnis hinterlassen. Bis er dieses Vermächtnis in Händen hält, erfährt er nicht nur vieles über seine Herkunft und seine Eltern, sondern auch über Schlaf und die Folgen der Schlaflosigkeit – und über das Morpheus-Gen: sein Vater hat darüber geforscht.

Berlin Brandenburger Tor

Das läuft natürlich nicht gemütlich ab, ist doch gleichzeitig viel Geld im Spiel, Macht, Intrigen und eine ziemlich nonchalante Einstellung zum Leben anderer Leute sowieso. Ein New Yorker Polizist mischt sich ein, David muss unvorhergesehene Allianzen eingehen, Dinge tun, die ihm eigentlich zuwider sind, immer wieder schnell den Ort wechseln, und das unter ständiger Lebensgefahr. Alles hängt damit zusammen, wie die Menschen, denen er begegnet, mit dem Schlaf umgehen – genau das allerdings erschließt sich ihm nur sehr allmählich.

Der Thriller verfolgt Davids Geschichte dieser paar Tage zwischen New York, Berlin und Tschechien mit schnellen Schnitten, ständig hängt alles an jeweils neuen seidenen Fäden. Als Leser*in erfährt man mehr als David selbst, teils parallel, teils in Rückblenden: über den vornehmen Herrn, über die Polizei und diverse andere Institutionen der USA, sowie über eine junge Dame, die sich scheinbar selbstlos um David kümmert, tatsächlich aber ihre eigene Mission verfolgt. Und man blickt in die konspirative Vergangenheit der Strippenzieher.

Das ist spannend und süffig zu lesen, selbst dort, wo es über die Wissenschaft vom Schlaf geht, die sehr gut recherchiert ist. Am Schluss löst sich die Geschichte nicht nur logisch auf, auch Personen der Zeitgeschichte bekommen ihr Fett ab. Fazit: Ein spannender, teils atemloser Thriller, den man nicht mehr weglegen mag, und das inhaltlich wie sprachlich auf hohem Niveau.

Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt.

Vorwiegend psychologische Anmerkungen zu einem Bestseller.

Thomas Bauer: Die Vereeindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Reclam, 2018


„Die Vereindeutigung der Welt“ – den Titel könnte man fast genialisch nennen. Der Begriff „Welt“ suggeriert, dass man eine Art Philosophie des großen Ganzen erwarten kann. „Vereindeutigung“ markiert ziemlich eindeutig (sic!), dass Eindeutig-Sein negativ zu werten ist. Was der Begriff „Verlust“ im Untertitel bestätigt: Verschwundenes kann nur Verlust sein, wenn es positiv war – wer würde schon etwa das Verschwinden der Sklaverei aus Europa als „Verlust“ bezeichnen?

Unter diesem eindeutigen – durchaus sympathischen – Titel präsentiert der Münsteraner Islamwissenschaftler und Arabist Thomas Bauer zehn Kapitel zu seinem Spezialthema, der „Ambiguitätstoleranz„. Der Begriff Ambiguität kommt klassisch aus der Linguistik. Die beschreibt damit das Phänomen, dass Wörter den Kontext brauchen: in Kontext eins bedeuten sie dieses, in Kontext zwei etwas anderes. Die Psychologie hat das auf den Alltag und die menschliche Interaktion übertragen, wo fast alles mehrdeutig ist; entscheidungstheoretisch würde man „unsicher“ sagen. Menschen kommen unterschiedlich gut zurecht mit solchen Unsicherheiten bzw. Ambiguitäten. Wissenschaftlich-psychologisch gibt es sogar gewisse Hinweise darauf, dass, wer in Alltagsdingen wenig „Ambiguitätstoleranz“ aufbringt, etwas häufiger von erhöhter Ängstlichkeit geplagt ist.

Der Autor überträgt das auf ganze Kulturen, auch wenn er leider nicht positiv definiert, was er dort genau unter Ambiguitätstoleranz versteht. Dafür beschreibt er drei Aspekte, die für Kulturen der Ambiguitäts-in-toleranz typisch seien. Diese reklamierten erstens „die“ Wahrheit für sich, sie ignorierten zweitens die Geschichte, und sie strebten drittens nach Reinheit. In dem Bereich, für den Thomas Bauer wissenschaftlich ausgewiesen ist, dem religiösen, kennt man dieses Trio als „Fundamentalismus“. Heute seien IS und Konsorten derart gestrickt, so Bauer, historisch aber seien islamische Kulturen erheblich ambiguitätstoleranter gewesen als das christliche Abendland. Das klingt interessant, aber man hätte gerne neben dem Verweis auf sein gleichlautendes Buch (s.o.) auch noch ein paar konkrete Belege. Der Fundamentalismus habe einen Gegenpol, der genau wie dieser aus dem Streben nach Eindeutigkeit resultiere: die Gleichgültigkeit. Genau auf diesem Trip sei das heutige Europa.

Die Hagia Sophia. 1000 Jahre lang Symbol der christlichen Ostkirche. 1453 eindeutig zur Moschee gemacht.

Die Hagia Sophia in Istanbul. Sie war 1000 Jahre Symbol der christlichen Ostkirche. 1453, direkt nachdem er Konstantinopel erobert hatte, machte Sultan Mehmet II. die Hagia Sophie zur Moschee – eindeutig.

Der „Verlust“ der Ambiguität bzw. der Vielfalt (oft gleichgesetzt) zeige sich heute in allen Lebensbereichen, von den einheitlichen Monsanto-Tomaten bis zum Verschwinden vieler Sprachen in der Welt, vom Aussterben Tausender Arten in Flora und Fauna bis zur Werbung, die Uniformes als Individuelles verkauft. Diese Phänomene kennen (fast) alle und bedauern viele, die dazugehörige Kapitalismuskritik auch. Bauer verortet die Ursachen allerdings nicht in der Ökonomie, sondern in der (westlichen) Kultur.

Interessanterweise beklagt er, wissenschaftliche Expertise werde nicht mehr gewürdigt, was sich daran zeige, dass in Talkshows zum Islam häufig Nicht-„Islamwissenschaftler“ zu Wort kämen. Der Islamwissenschaftler TB tut das gleiche: Zwei von zehn Kapiteln widmet er der Musik und der Malerei des 20. Jahrhunderts. Dass Bauer dafür keine wissenschaftliche Expertise hat, zeigt sich leider fast in jedem Satz.

Graffito in München:
Eindeutig? Mehrdeutig? „Moderne Kunst“?

Eine der wichtigsten Folgen des (abendländischen) Vereindeutigungsstrebens sieht Bauer darin, dass alles und jedes in „identitäre „Kästchen“ sortiert werde. Beispiele: Die kulturalistische „Rassen“theorie des Nazis Ludwig Clauß, der interessant-skurril, aber für die Nazis letztlich irrelevant war. Die Monsanto-Einheits-Tomatensorten, die halt besonders profitabel sind. Die Homosexualität, die nicht als Handlungsoption gehandelt werde, sondern als „Kästchen“ – in der Psychologie würde man sagen: als Persönlichkeitsmerkmal. Dabei zitiert er allen Ernstes eine Neu-„Definition“ von sexistisch, die plötzlich mit (männlicher) Homo- bzw. Heterosexualität zu tun hat statt mit Frauen und Männern. Womit das Thema „Frauen und Eindeutigkeit“ elegant entsorgt wäre, einschließlich deren Schicksal im ambiguitätstoleranten Islam damals wie heute.

Schließlich geißelt er das, was er „Authentizitätswahn“ nennt. Ob Wein oder Politiker: alles müsse heute authentisch sein – ein Eindruck, den er auf Zeitungsartikel gründet, nicht auf wissenschaftliche Studien. Zum Begriff „Wahn“ möchte man ihm allerdings gerne die Hilfestellung des Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit empfehlen.

Zum Schluss plädiert Bauer dafür, Toleranz für Mehrdeutigkeit zu trainieren, etwa mit mehr Kunst und Musik in der Schule, was ihm viel Lob eingetragen hat. Dem kann man uneingeschränkt zustimmen, wobei sich die Frage stellt, wie er gleichzeitig die gesamte zeitgenössische Kunst als Beleg für die böse Vereindeutigung hernehmen kann – und dann als Heilmittel mehr davon fordern. Denn Musik, bildende Kunst und alle, die sie ausüben, leben im Heute, sind also modern. Gleichzeitig wurzeln sie – und in der Regel sehr bewusst – in der gesamten Kunst- und Musikgeschichte.

Die teils hymnischen Besprechungen dieses Textes in der Publikumspresse und im Netz lassen einen logisch-wissenschaftlich denkenden Menschen etwas ratlos zurück. Die Fachleute für seine Beispiele jedenfalls hüllen sich weitgehend in Schweigen: Philosophen, Psychologen, Musiker und Kunsthistoriker.