Noch sind es keine Computerprogramme, die Menschen ermorden, sondern Menschen. Und Menschen werden müde, schlafen zu den unmöglichsten Zeiten ein, schlafen vor oder nach ihrer verbrecherischen Tat oft schlecht, und sind danach erst richtig müde, so müde. All das erscheint in dieser Kurzkrimi-Sammlung „Beichte und Bestechung“, wenn auch nur nebenbei. Zentral stellen fünfzehn Autorinnen ihre eigene Hauptfigur vor, samt ihrer kriminellen Taten.
Die Figuren lernen sich ausgerechnet in einem Nonnenkloster in Bayern kennen, das allerdings existenzgefährdend verarmt ist. So sucht die verantwortungsvolle Äbtissin überall nach neuen Geldquellen. Schließlich hat sie sich vor Jahrzehnten auf Gedeih und Verderb nicht nur dem Wohl ihres mystischen Bräutigams Jesus verschrieben, sondern auch dem seiner Klöster und der katholischen Kirche. Wenig zimperlich fischt sie Gelder ab, wo sie zu finden sind, bei Bigottischen, schrägen Vögeln und Hochkriminellen. Erbschaften, Schweigegelder und Seminargebühren, von allem etwas.
Die Selbsthilfegruppe der Äbtissin Fabiola
Buch-Cover Thea Lehmann (Hg): „Beichte und Bestechung“, München, 2025
Zusammen mit dem örtlichen Pater Quirin ruft Äbtissin Fabiola eine Selbsthilfegruppe für Schwerkriminelle ins Leben. Geeignete Personen spricht Pater Quirin in seiner Online-Beichtgruppe an, die er im Darknet betreibt. Bald beginnen diese, sich regelmäßig analog und physisch im Kloster zu treffen und sich alles von der Seele zu reden, was sie kriminalistisch so bewegt. Männer und Frauen nehmen teil, Ältere und Jüngere, Eiskalte und Liebende, in voller Absicht Mordende und unabsichtliche Arrangeure merkwürdiger Unfälle. Wie in jeder Psychogruppe schwören sie strengstes Stillschweigen, nicht nur über die Taten, sondern auch über die Gruppe als solche. Was Kriminelle ernster nehmen als andere. In der Unterwelt hängt sowieso die „Ehre“ am Schweigen, aber die Gruppenmitglieder profitieren auch unmittelbar davon, liefern sie doch in jeder Sitzung Geständnisse, die abzuhören für die Polizei eine Freude wäre. Einen Fehler jedoch macht der schöne und schlaue Pater Quirin, und er wird ihn sich nie verzeihen: Die Undercover-Journalistin erkennt er erstmal nicht.
Die Geschichten sind frech und schlau, die Plots stimmig und rund, aufgeschrieben haben sie Profis. Das liest sich sowieso flüssig, vieles ist zum Tot(sic!)lachen. Tatsächlich stirbt kein Opfer, weil es sich totlacht, sondern alle durch makabre Unfälle, abstruse Zufälle, Gift im Essen oder in Blumen, allergische Schocks oder durch allerlei andere ungewöhnliche Ereignisse. Niemand ermittelt, man kriegt alles mit, und es sieht so aus, als laufe das fröhliche Morden immer weiter. Und im Gegensatz zu einigen Teilnehmenden schläft die Äbtissin völlig ruhig.
„Schlafen kann ich noch, wenn ich tot bin“ – Rainer Werner Fassbinders einschlägiger Spruch ist so legendär wie absurd. Wir wissen alle, dass wir schlafen müssen. Doch seit die Menschheit über sich nachdenkt, fragt sie sich, warum, nicht zuletzt, weil sich viele wie Fassbinder dadurch in dem beschnitten fühlen, was sie „frei“ nennen. Die Folge bis heute: gerade in den reichen Ländern gibt man damit an, wenn man wenig schläft. Die notwendige Kehrseite: man verachtet den Schlaf.
Wie die Wissenschaft nach dem Sinn des Schlafs sucht
Die Schlafforschung hat sich von Anfang an auch mit der Frage nach dem Sinn des Schlafs beschäftigt. Doch gute Antworten ließen auf sich warten. Bis in die 1970er-Jahre hinein wurde sogar ernsthaft eine ziemlich schräge Idee Benjamin Franklins diskutiert: Der hielt den Schlaf für ein unsinniges Überbleibsel der Evolution, das sich mit der elektrischen Beleuchtung von selbst erledigen würde.
Fehlanzeige. Etwas stimmt trotzdem: wir schlafen heute etwas weniger als unsere Vorfahren um die letzte Jahrhundertwende. Aber wir schlafen. Warum? Leider beantwortet die Natur derart pauschale Fragen nicht. Da muss man sie schon präziser befragen. Die erste „Übersetzung“ der Warum-Frage hieß „Ab welcher Wachdauer stirbt man?“ Diese Übersetzung war zu platt. Man hatte Schlaf als eine Art Stoffwechsel missverstanden. Wenn wir bestimmte Stoffe eine Weile nicht bekommen, sterben wir. Beim Sauerstoff dauert das Minuten, beim Wasser Tage und bei Nährstoffen Wochen. Beim Schlaf aber ist eine solche Frage viel zu mechanistisch. Da es beim Schlaf keinen „Stoff“ gibt, steht die Frage gewissermaßen auf dem Kopf.
Es war die Chronobiologie, die sie auf die Füße stellte. Der Schlaf ist nämlich Teil eines chronobiologischen Prozesses. Und wenn der nicht läuft, wie er sollte, passiert allerlei Missliches. Die Chronobiologie sieht für die meisten von uns vor, dass wir sieben bis acht Stunden schlafen, qualitativ gut (was das ist, steht an mehreren Stellen dieses Blogs, z.B. hier) und in der Nacht. Tun wir das nicht, dann fangen wir uns etwa leichter Infektionen ein; falls wir akut krank werden, dauert die Genesung länger; und langfristig steigt das Risiko für viele chronische Erkrankungen, was die Lebenserwartung tatsächlich verkürzt. Aber eben nicht sofort.
Kurzfristig ist etwas anderes beeinträchtigt: unsere psychische Stabilität und unsere Leistungsfähigkeit, die körperliche wie die geistige. Immer. Von Hochleistung ganz zu schweigen.
Benedikt XVI – leistungsunfähig durch Schlaflosigkeit
Genau das hat ausgerechnet Papst Benedikt XVI, bürgerlich Joseph Ratzinger, verstorben an Sylvester 2022, ernst genommen. Für einen Mann der Kirche ist das nicht selbstverständlich, ist doch der Schlaf der Jünger am Ölberg ein Negativ-Topos des Christentums, der schon viele dazu brachte, den Schlaf zu verachten.
Zwei schlafende Jünger. Ferrara
Dieser Tage jedenfalls ging es durch die Presse, und zwar nicht nur durch die Kirchenpresse, sonder querbeet von der Süddeutschen bis zur Welt, vom Bayerischen Rundfunk bis zur Tagesschau, vom Boulevard bis zu Wochenmagazinen. Demnach lüftete Benedikt kurz vor seinem Tod das Geheimnis, das knapp zehn Jahre über seinem Rücktritt lag. Den hatte er mit „gesundheitlichen Problemen“ begründet, die seine Amtsführung beeinträchtigen würden. Nie hatte er sagen wollen, welche das waren.
Ich persönlich finde es rührend, dass er kurz vor seinem Tod in einem Brief an Peter Seewald mit der Sprache herausrückte. „Schlaflosigkeit“ sei es gewesen. Benedikt soll von seinem Leibarzt sogar „starke Mittel“ bekommen haben, um überhaupt zu schlafen. Kein Wunder, dass sie ihn tagsüber leistungsunfähig machten, egal, welche es waren. Schlafmittel bringen einen entweder zum Schlafen, dann bleibt man tagsüber oft genug müde. Oder sie nützen nicht viel, dann schläft man schlecht und ist tagsüber auch nicht leistungsfähig. Schlafmittel sind leider nur äußerst selten ein Mittel der Wahl – sagen selbst die Apotheken-Profis.
Ein Hoch jedenfalls auf Benedikt und sein posthumes Bekenntnis zu seinen Schlafproblemen als Krankheit! Wie schön wäre es, wenn seine „Schlaflosigkeit“ dazu beitragen könnte, das Ansehen des Schlafs zu heben.
Beten, Gott und alles das – auf einem Schlafblog? Scheint richtig weit auseinander, ist es aber nicht. Schließlich kann uns vieles am Schlafen hindern, ganz besonders Grübeln, Aufregung oder das Hadern mit sich selbst. Und zu den Wegen, das aufzulösen, gehört Meditieren, wozu man durchaus auch manche Gebetsformen zählen kann, Rezitieren etwa, Singen und sogar Tanzen. In Navid Kermanis neuestem Buch „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näherkommen. Fragen nach Gott“ geht es allerdings eher um die Meta-Ebene des Betens: Allabendlich spricht Vater Navid mit seiner zwölfjährigen Tochter über den Gott, der im Zentrum seines Betens steht. Danach soll das Kind natürlich gut schlafen, also entspannt sein und nicht über schwierige Dinge nachgrübeln.
Das Cover – kalligraphisch
Kermani will die Tochter seine Religion persönlich lehren, den Islam. Schließlich lernt sie in ihrem katholischen Religionsunterricht höchstens die katholische Sicht darauf (das sagt er nirgends; allerdings bleibt unklar, warum sie den überhaupt besucht). Die Gespräche sollen dem Mädchen den Islam des geliebten, aber verstorbenen Opas nahebringen und ihre Zweifel zerstreuen. Kermani ermuntert sie, Fragen zu stellen, und das tut sie. Ihre Fragen sind klug und ungewöhnlich erwachsen, sie betreffen Historisches, Naturwissenschaften und alle Religionen. Der Schriftsteller-Papa erzählt Geschichten: über den Koran und die Tradition, über Mohammed und Koran-Gelehrte, über die arabische Sprache und über Oma und Opa, die ihre Heimat Persien verließen, bevor es Navid gab. Einiges erzählt er auch über Biologie, Physik und über die monotheistischen Religionen. Dünn wird es bei den nicht-monotheistischen, da referiert er tendenziell bekannte Märchen europäischer Nabelschau.
Qua Beruf und Herkunft darf sich Navid Kermani in Scheherezades Tradition sehen, wobei er sein Gegenüber sicher nicht wachhalten will, wie es die legendäre persische Königin tausend und eine Nacht lang tat, um nicht von ihrem Gemahl ermordet zu werden. Der Papa sagt dem Kind sogar, es wäre ihm am liebsten, wenn es nach dem allabendlichen Gespräch gegen zehn Uhr schlafen würde (was für zwölf Jahre nicht früh ist). Meist wird es trotzdem elf Uhr. Bewegt sich die Tochter also schon in anfangspubertärer Weise Richtung Abendtyp? Oder halten Papas Geschichten das Kind unabhängig vom biologischen Rhythmus auch hinterher noch wach?
Kermani hält den Islam für richtiger als das Christentum, beinhart „bezeugt“ er Mohammed als den letzten und damit (end-)gültigen Propheten. Judentum und Christentum kann er trotzdem tolerieren. Nicht nur, weil alle drei den gleichen Gott haben, sondern auch, weil sie eine lineare Zeitvorstellung teilen. Die hält er für besser als die zyklisch-rhythmische der meisten Nicht-Monotheisten, wo eintönig das ewig Gleiche immer wiederkehre, ohne dass es eine Entwicklung gäbe. Dabei weist er auf etwas äußerst Interessantes hin: Religionen mit einer zyklischen Zeitvorstellung blickten mehr auf die Geburt, während die monotheistisch-linearen den Schwerpunkt auf den Tod legen würden. Warum? Sie wollen ihn „besiegen“. Das findet Kermani nicht erstaunlich, sondern großartig. Wobei der Papst sagen würde: stimmt nicht. Die Christen wollen den Tod nämlich gar nicht mehr besiegen. Sie „bezeugen“, dass Jesus das bereits erledigt hat, und zwar für alle Menschen. Könnte es sein, dass eine Zwölfjährige da ins Grübeln kommt? Und dass es ihr den Schlaf rauben könnte, wenn sie den Tod „besiegen“ soll statt das rhythmische, also zyklische Leben zu feiern?
Ein besonderer Graus ist Kermani die nontheistische Weltreligion, die aus europäischer Perspektive das Etikett „Buddhismus“ trägt (in Asien sagen sie dazu meist Buddhas Lehre oder Buddhas Weg). In traditioneller christlicher Weise tut er den Buddhismus als „abgrundtief pessimistisch“ ab. Vielleicht hält er ihn auch für polytheistisch, das kann einem einfallen, wenn man sich religionswissenschaftlich nicht so gut auskennt. Polytheismus jedenfalls, erklärt Kermani seiner Tochter völlig selbstverständlich, sei die „einzige Sünde“, die der islamische Gott „niemals verzeiht“. Hier kann die Tochter nicht mitgehen, will sie doch allen Menschen ihren eigenen Blick auf die Welt zugestehen, wie man das in ihrem Freundeskreis tut. Das Befremden darüber, dass es unverzeihlich sein soll, wenn Menschen das Göttliche oder Heilige in vielen Gestalten sehen (dass die oft weiblich sind, erwähnt Kermani nirgends), könnte sie durchaus in den Schlaf verfolgen.
Auch die Gewaltfrage im Koran verstört das Kind, und auch die kann der gläubige Vater nicht auflösen. Er zieht sich darauf zurück, dass die Koransuren zur Gewalt eben „nicht jugendfrei“ seien und sowieso erst „geoffenbart“ wurden, als die Mekkaner Mohammed gewissermaßen für verrückt erklärten und stur an ihrer traditionellen Religion festhielten. Dem musste er dann halt mit Gewalt begegnen. Segen von oben inbegriffen. Und?
Wann ist eine Geschichte schlaffreundlich? Wenn sie spannend ist, aber nicht aufregend, wenn man sie unangestrengt und leichten Herzens versteht, wenn sie gut ausgeht und keine existenziellen Widersprüche beinhaltet. Vielleicht ist die abendliche Geschichtensituation ja nur Kermanis dichterischer Freiheit geschuldet, schließlich erlaubt das, wissenschaftlich eigentlich nötige Argumente auszulassen, weil Zwölfjährige sie falsch verstehen würden. Doch in dieser Erzählsituation gibt es diese Zwölfjährige. Und die ist am Schluss tatsächlich nicht überzeugt. Vielleicht liegt es auch daran, dass manche der Geschichten sie nicht schlafen ließen.
Letzte Woche feierte die Schlafzunft ihr Hochamt: den Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin, DGSM. Zwar nur im Netz, aber immerhin. Die Medien nehmen diesen Kongress gerne zum Anlass, sich etwas genauer mit dem Schlaf zu beschäftigen.
Diesmal hat die Süddeutsche Zeitung ein Interview abgedruckt, das Felix Hütten mit Anna Heidbreder geführt hat. Dieses Interview ist so gut, dass ich es in meinen nächsten Schlafschule-Seminaren verwenden werde. Heidbreder ist Schlafmedizinerin (das ist ein medizinischer Titel) und Somnologin (das ist ein Titel der wissenschaftlichen Fachgesellschaft). Die Oberärztin an der Uniklinik Innsbruck ist im Hauptberuf Neurologin, so dass ihre Arbeitsschwerpunkte auch in Sachen Schlaf (nach unten scrollen, AH kommt erst nach den vier Hauptvorständen) neurologisch sind: etwa Narkolepsie, das Syndrom der unruhigen Beine (restless legs) oder die REM-Schlaf-Bewegungsstörung (RBD). In den REM-Phasen (REM kommt von Rapid Eye Movement) träumen wir unsere verrücktesten Träume. Sinnvollerweise ist da die Muskulatur weitgehend gelähmt, andernfalls würden wir nämlich diese Träume auch ausagieren und gewissermaßen um uns schlagen. Genau das erleben Personen mit RBD, bei ihnen funktioniert die Lähmung nicht mehr.
Weniger zum Schlafen geeignet – gemachtes Bett im Glashaus am Bodensee. Landesgartenschau Lindau 2021
Allerdings interessieren sich die meisten Leute für neurologische Schlafthemen eher dann, wenn sie selbst davon betroffen sind. Weiterlesen tun sie eher, wenn es darum geht, wie man besser schläft. Felix Hütten fragte in diese Richtung, und das sehr pfiffig. Nun hängt es grundsätzlich nicht zuletzt an den Fragen, wie gut jemand antwortet – und hier haben sich zwei getroffen, wo es funktioniert hat. Heidbreder jedenfalls antwortet wunderbar, auch sehr fundiert über die Psychologie des guten Schlafs.
Besonders gefreut hat mich, dass die Neurologin Anna Heidbreder sich traut, den gängigen schlechten Schlaf mit dem zusammenzudenken, wie unsere Gesellschaft so tickt: „Wir möchten ständig unser Leben optimieren, auch den Schlaf“, sagt sie, um die verbreitete Unfähigkeit zum Abschalten zu erklären. In meinen eigenen Schlafschule-Seminaren habe ich auch immer wieder Menschen erlebt, die es ernsthaft erzürnt, von einer grundlegenden Erkenntnis zum Schlaf zu hören: Der Schlaf ist tatsächlich etwas, was sich nicht willentlich optimieren lässt, schon gar nicht, indem man sich darauf konzentriert. Er wird nur dann gut, wenn wir ihn bzw. die Biologie nicht mit unseren Vorstellungen behelligen. Ein bisschen hochtrabend ausgedrückt: er ist gut, wenn wir das Leben selbst machen lassen.
Heidbreder sagt auch eindeutig, wie unsinnig, ja geradezu kontraproduktiv es ist, den eigenen Schlaf zu tracken. „Einfach mal abschalten“ – dieser wichtigste Weg zum guten Schlaf lässt sich weder mit Optimierung vereinbaren noch mit dem, was heutzutage zur Optimierung gehört: Tracking jeder Art. Schlafen ist das Gegenteil von Leistung.Er ist nicht Tun, sondern Lassen. Wie schön, dass das jemand Professionelles sagt. Noch dazu jemand aus dem DGSM-Vorstand. Danke!
Eine „Osterruhe“ hatten sie geplant, Kanzlerin und MPs, um die dritte Corona-Welle in den Griff zu bekommen. Dann der Knall: gestern mittag nahm Angela Merkel das Ganze zurück. Am Tag nach der überlangen Digitalsitzung hatte die Verwaltung festgestellt, dass sich fünf statt drei „Osterfeiertage“ rechtlich nicht organisieren lassen. Abgesehen davon, dass eine Maßnahme mit zehn Tagen Verzögerung sowieso nicht mehr das bewirken kann, was man vielleicht an Tag Null erwarten könnte.
Chronobiologie und die Osterruhe-Entscheidung
Nun geht es auf diesem Blog vorrangig um Schlaf und Chronobiologie, nicht um Mathematik oder Epidemiologie. Doch das Wissen aus Schlaf und Chronobiologie hat etwas ziemlich Basales beizutragen zu dieser „Osterruhe“-Geschichte und der Tatsache, dass sie in der Nacht erfunden wurde. Das ist noch dazu extrem gut abgesichert. Es will bloß selten jemand hören – Stichwort 24/7-Gesellschaft.
Kanzlerin Merkel und die MPs trafen sich natürlich digital, und zwar am frühen Nachmittag. Mehr als zwölf Stunden später – sie hatten erheblich länger getagt, als nach Arbeitsschutzgesetz zulässig – gingen sie vor die Presse und berichteten unter anderem über die „neuen“ Feiertage. Es war halbdrei Uhr nachts.
Tageszeiten, Müdigkeit und Chronobiologie
Leider sind die zwei Stunden um halbdrei nachts herum chronobiologisch ungefähr der allerschlimmste Zeitraum, um geistig leistungsfähig zu sein. Da ist die Körpertemperatur am niedrigsten, die Stimmung schlechter als sonst und die Denkfähigkeit sowieso im Keller. Nicht einmal gesunde Abendtypen sind da noch fit. Um diese Zeit machen Menschen die meisten Fehler, egal bei welcher Tätigkeit. Sogar fast alle großen Katastrophen, die auf „menschliches Versagen“ zurückgingen, fanden um diese Tageszeit statt – von Tschernobyl und Exxon Valdez bis zu den meisten spektakulären Verkehrsunfällen. Grund: Unaufmerksamkeit wegen Müdigkeit und Mikroschläfchen. Natürlich versuchen immer einige „vorzuschlafen“. Leider funktioniert das nicht wirklich: Schlaf lässt sich nicht bunkern. Die Literatur dazu habe ich mal auf ZEIT-online zusammengefasst.
Kein Zeitpunkt für Entscheidungen – Übermüdet vor Milano Centrale
Außerdem waren um halbdrei (fast?) alle seit mehr als 20 Stunden wach. Nach so langer Zeit ist die Konzentration bereits unabhängig von der Tageszeit schlechter. Wer 21 Stunden wach war, ist so leistungsfähig wie mit 0,65 Promille Alkohol im Blut. Darf man damit noch Autofahren? Seit 2001 nicht mehr, und das mit Recht. Nach 22 Stunden bringt man es auf eine Konzentration wie bei 0,8 Promille Alkohol (genauer: hier). Damit durfte man seit 1973 nicht Autofahren.
Nächtliche
Entscheidungen oft schlecht
Deshalb wundert es mich nicht sonderlich, wenn in einem solchen mentalen Zustand niemand wirklich rauszufinden versucht, ob es überhaupt machbar ist, mal schnell einen zusätzlichen „Feiertag“ zu dekretieren. Egal wie „hochkarätig“ und „leistungsstark“ Politiker sein mögen: Sie sind Menschen, also biologische Wesen und keine Maschinen. Auch ihr Urteilsvermögen ist um halbdrei nachts erheblich schlechter als tagsüber. Jetzt hat sich Merkel entschuldigt, eine durchaus noble Geste. Besser wäre, alle hätten sich verpflichtet, kürzer zu tagen. Noch besser: nachts schlafen gehen. Damit sie danach mit klarem Kopf entscheiden können. Doch dieser Zug der biologischen Vernunft scheint abgefahren.