Gut schlafen im Nachtzug – vorbei?

Istanbul Express -heute im Museum

Istanbul-Express – nur noch im Museum. Demnächst alle Nachtzüge?

Die Urlaubszeit beginnt – und die Bahn verkündet allen Ernstes, ihre schon früher geäußerten absurden Sparmaßnahmen mit dem Winterfahrplan in die Tat umsetzen zu wollen. Sie möchte die Nachtzüge abschaffen. Jedenfalls die, in denen das möglich ist, womit sie bisher für die sogenannte City Night Line geworben hat: „Sie reisen im Schlaf und wachen morgens am Zielort aus“ – und: „Sie kommen ausgeruht direkt im Stadtzentrum an“. Super Zeitmanagement. Falls man schlafen kann.

Schlafen?– richtig gut nur im Liegen

ICE - der Lieblingszug der DB

ICE- nachts ziemlich ungeeignet

Schlafen allerdings ist nur dann wirklich erholsam, wenn man liegt. Zwar sind Liege- und Schlafwägen ein wenig laut – aber so lange, dass man am nächsten Tag  einigermaßen fit ist, schläft man dort schon. Sitzend im ICE ist das erheblich schwerer, und zu allem Überfluss schlägt es sich aufs Kreuz. Sitzen ist nun mal nicht die beste Haltung für das Lebewesen Mensch – und viele Stunden nachts schon gleich gar nicht. Tatsächlich hat die Bahn angekündigt, die Nachtfahrer in die ICEs zu verbannen, also zu vergraulen – mit 250 km/h und im Sitzen. Wie intelligent! Nach einer Nacht im Sitzen ist man nicht ausgeruht. Wer das Gegenteil behauptet, hat keine Ahnung vom Schlaf oder lügt einfach.

Die Bahnoberen – keine Bahnnutzer?

Dieser neueste Coup zeigt wieder mal, was die oberen Etagen der Bahn mit dem ihnen anvertrauten Unternehmen tun: es kaputtsparen. Selbst zu nutzen scheinen sie es nie, sonst würden sie sich solche Schildbürgerstreiche  sparen. Niemals kämen hochbezahlte BMW-Mitarbeiter auf die Idee, etwas anderes als BMW zu fahren. Die Bahnoberen? Fahren Auto. Obwohl sie eine Netzkarte haben (BahnCard 100), für die 1. Klasse, wie es heißt; diese „Perlen“ landen offensichtlich an der falschen Stelle.

Liege- und Schlafwagennutzer fahren begeistert Bahn

Die Bahn braucht Menschen, die von der Fortbewegung auf Schienen überzeugt sind, nicht nur solche, deren Auto gerade in der Werkstatt ist. Leute, die weitertragen, dass Eisenbahnfahren super ist – lesen, arbeiten, dösen, Zeit haben, herumlaufen, essen, sogar im Speisewagen, umweltfreundlich, manchmal nette Leute, alles gehört dazu. Die meisten dieser Überzeugten haben schon lange Strecken nachts zurückgelegt. Im Schlaf- oder Liegewagen. Oder im Abteil quer liegend. Niemals im Pseudo-Nachtzug ICE-Großraumwagen. Nicht wenige wurden erst zu begeisterten Zugfahrern, nachdem sie im Liegewagen unterwegs waren.

Süddeutsche Zeitung trauert um die echten Nachtzüge

Bahnhof Rovereto

Bahnhof Rovereto – die Nachtfahrt über den Brenner ist vorbei

Am 1. 6. 2016 hat Matthias Drobinsky in der Süddeutschen einen wunderschönen Nachruf auf die Nachtreisen geschrieben. Überschrift sehr passend: „Mord im Orientbus“? Klar, wäre völlig schwachsinnig. Eine spannende Geschichte kann nur im Orientexpress spielen. Subtext Drobinsky: So dumm muss man erst mal sein wie die Bahnoberen.

Rettet die Nachtzüge der DB (und die Autozüge auch)

Die zugehörige Unterschriftenkampagne läuft noch. Die ersten 28.882  Unterschriften wurden zwar bereits in Berlin überreicht. Doch mit jeder weiteren steigt die Chance, dass sich auch der Petitionsausschuss des Bundestages damit befasst. Immerhin vertritt der Bundestag alle Eigentümer. Uns.

Der freie Sonntag und die Kunst der Pause

Momentan streitet man in München vor Gericht um die Frage, ob am Sonntag des Stadtgründungsfestes im Juni die Innenstadtläden geöffnet haben dürfen/können/sollen. Die Süddeutsche Zeitung (nur in der Print-Ausgabe) trommelte dafür: Sei doch kein Problem, die Leute meldeten sich freiwillig, und es sei doch nur ein Sonntag im Jahr. Trotzdem: Betriebsräte stellten sich quer, die Kirchen sowieso, die Klage läuft. Motto: „Rettet den Sonntag!“ Hängen die ewig Gestrigen am Falschen? Pflegen sie Gewohnheiten statt Neues zu wagen? Ist das Verkrustung statt Innovation?

Ist Sonntagsarbeit innovativ, also gut?

Zerschlagen - Kulturrevolution

Zerschlagen – Kulturrevolution

Innovation gilt als an sich gut, sie treibe die Wirtschaft an, heißt es. Sollte man nicht doch genauer hinschauen, was da anders werden soll? Sollte man nicht vorher denken und prüfen, was genau von Übel ist? Ich jedenfalls muss bei Preisliedern auf Neues an sich immer an China denken. Als ich vor einigen Jahren dort war, konnte man immer noch Folgen des „Weg mit dem Alten“ besichtigen. Es war nämlich auch Maos Kernbotschaft vor 50 Jahren, als er “die Jugend” zur “Kulturrevolution” rief und sie aufforderte, alles kurz und klein zu schlagen, was die chinesische Kultur in fünftausend Jahren aufgebaut hatte. Leider nahm die Jugend das wörtlich, schon vor 50 Jahren kannte die Zerstörungswut aufgepeitschter, autoritärer Kinder keine Grenzen. Vielerorts blieben Überreste erhalten wie auf dem Foto, das vom Westsee bei Hangzhou stammt.

Materielle Kultur kann man anschauen, Kunstwerke zum Beispiel. Immaterielle Kulturgüter kann man nur anhören, spüren oder sonstwie erleben, von Musik über Bildung bis zur Höflichkeit. Ein Kulturgut der besonderen Art ist der arbeitsfreie Sonntag. Wer ihn erleben kann und sozial nicht völlig isoliert ist, versteht das mit dem Kulturgut. Wer shoppen für einen Lebensinhalt hält, versteht es weniger. Freier Sonntag heißt: gemeinsam Zeit haben. Im 19. Jahrhundert trafen sich die Münchner Hausangestellten an einem Sonntag im Jahr zum „Kocherlball“, früh um 5, damit die Herrschaft ihren Sonntagsbraten trotzdem rechtzeitig bekam. Inzwischen ist der Kocherlball ein Event am dritten Sonntag im Juli am Chinesischen Turm (siehe Foto). Heute für die, die sonntags frei haben, grade nicht wie die „Kocherl“, die hinterher arbeiten mussten.

Kocherlball München

Kocherlball am Chinesischen Turm in München

Kulturgut Sonntag

In manchen Branchen ist Sonntagsarbeit notwendig, etwa bei der Polizei, in Krankenhäusern oder im Theater. Sie müssen ihre Leute am Sonntag aber besser bezahlen und ihnen zu anderen Zeiten frei geben. Doch das ist nicht mit einem freien Tag vergleichbar, an dem die anderen auch frei haben.

Der Mensch ist keine Maschine (und, ceterum censeo, sein Gehirn ist kein Computer). Der Mensch ist ein biologisches Wesen, und das kann nicht ständig auf 150 sein, selbst wenn es ständig Energie tankt. Er unterliegt diversen biologischen Rhythmen. Die kann man zwar flexibel handhaben, aber wer sie zu lange ignoriert, wird krank. Einer dieser Rhythmen dauert ungefähr sieben Tage. Der Sonntag markiert ihn gewissermaßen sozial, er setzt sozial eine Pause, und die benötigen wir auch psychisch und physisch. Der arbeitsfreie Sonntag verordnet sich uns allen als gemeinsame Pause. Er stellt Zeit zur Verfügung – neudeutsch: ein Zeitfenster –, und diese Zeit können ganze Familien und Freundeskreise gemeinsam nutzen, und das sogar spontan. Man muss sich nicht drei Jahre zuvor darauf verständigen, sich da Urlaub zu nehmen. Der freie Sonntag entspannt. Alle, auch das Verkaufspersonal. Anders ist es höchstens bei den ganz Einsamen; aber das ist eine andere Geschichte.

Die Kunst der Pause – über den Tag verteilt

Pausen über den Tag haben mit Stundenrhythmen zu tun. Wie es darum steht, schreibe ich demnächst – und am 5. Juni halte ich einen Vortrag darüber im Münchner Gasteig. Das ist ein Sonntag. Zu shoppen gibt es nichts bei mir. Nur zu denken, vergnüglich natürlich. Uhrzeit: 11 Uhr vormittags.

Leistung, Schlaf und Pausen

Charlie Chaplins Film „Modern Times“ bietet sich immer dann an, wenn jemand Zerstörerisches an der Arbeitswelt illustrieren möchte. Diesmal ist es die Titelgeschichte der ZEIT („Wir leben im falschen System“) – da schraubt Charlie an riesigen Zahnrädern und gerät irgendwann dazwischen.

Heute ist Chaplins klassische Kritik an der Taylorschen Fabrikarbeit selbst ein Klassiker, die stumpfen Einzelhandgriffe werden von Robotern erledigt und nicht mehr von Menschen zwischen Zahnrädern. Die lebendigen Zeitgenossen in der Fabrik bedienen meist High-Tech-Anlagen; dort steigt nur noch die Rate der psychischen Probleme, die der Chaplinschen Arbeitsunfälle dagegen sinkt. Die verbliebenen Unfälle haben oft mit dem 7/24-System zu tun: Sie ereignen sich gerne nachts, dann, wenn der biologische Organismus Mensch eigentlich schlafen sollte. Schließlich macht er dann viel mehr Fehler als tagsüber, und die sind mitunter gefährlich.

Dieser ZEIT-Schwerpunkt thematisiert die 24-Stunden-Gesellschaft zwar nicht ausdrücklich, aber intensiv. Es geht um das aktuell angesagte Turbo-Leben und seine Schattenseiten. Susanne Gaschke, Elisabeth von Thadden und Hilal Sezgin – interessant, dass es lauter Frauen sind – berichten über Gründe, Hintergründe und aktuelle Gegenbewegungen. Einige ihrer Gedanken möchte ich chronobiologisch oder somnologisch ergänzen.

Gaschke besuchte den englischen Kultautor Tom Hodgkinson („Anleitung zum Müßiggang“, Zeitschrift „The Idler„) und hat ausführlich mit ihm gesprochen – darüber, wie die „Arbeitskultur der westlichen Welt … so viele von uns versklavt, demoralisiert und deprimiert hat“. Dafür bringt Hodgkinson viele Beispiele – und eine ganze Reihe verweisen nicht zuletzt auf unser „modernes“ Verständnis von Schlaf und Pausen als Zeitverschwendung.

So empfahl, berichtet Hodginkson, John Clayton den Armen schon 1755  als „wichtigste Strategie gegen Not“, eben früh aufzustehen. Außerdem werde seit damals gerne die Behauptung vertreten, lange schlafen sei gesundheitsschädlich. Hodgkinson hält dagegen, und das zu Recht. Was er verpasst – er könnte die Schlafforschung zur Zeugin rufen. In Wahrheit nämlich brauchen wir den Schlaf, um überhaupt zu leben und – Ironie des Ganzen – um leistungsfähig zu sein. Der Fetisch der sogenannten Leistungsgesellschaft ist ohne Schlaf gar nicht zu haben.

Hodgkinson setzt noch eins drauf, indem er den Wecker als das „Lieblingsinstrument aller Sklaventreiber“ bezeichnet. Und in der Tat, wie jedes Lebewesen braucht auch der Mensch keinen Wecker; er wacht nämlich von selbst auf, sobald er ausgeschlafen ist. Insofern verkürzt der Wecker oft genug die optimale Schlafdauer, was die eigentlich bekannten Folgen hat, von Müdigkeit über Desinteresse bis Kreativitätsmangel, diverse Gesundheitsstörungen noch gar nicht gerechnet. Nur zwei Personengruppen brauchen einen Wecker wirklich für sich selbst: Die einen sind Menschen, die grundsätzlich miserabel schlafen. Die anderen sind extreme Abendtypen, die sich nur ungenügend an den 24-Stunden-Rhythmus der Erde anpassen können. Beide Gruppen schlafen besser, wenn sie einen strengen Rhythmus einhalten, und dabei hilft der Wecker.

Hodgkinson packt seine Kritik in Fragen. Mit dabei: „Wer hat den Tod des zwei- bis drei-stündigen Mittagessens … auf dem Gewissen? Wer verbot den Mittagsschlaf?“ Beides ist mindestens freudlos, doch es gibt mehr daran auszusetzen: Wer täglich zur gleichen Zeit ausgiebig und in angenehmer Gesellschaft zu Mittag isst, kann seinen Tages-Rhythmus besser halten. Und ein kleines Schläfchen hinterher bringt die Lebensgeister erheblich mehr auf Trab als jeder Döner mit dem Bildschirm im Blick.

Es ist beim Menschen nur graduell anders als bei Schafen und Kühen: er braucht Pausen (mehr zu Menschen in „Wach und fit„). Hilal Sezgin beobachtet täglich das liebe Vieh und stellt dabei fest, dass dieses Vieh von früh bis spät beschäftigt ist – teils mit Futtersuche, teils mit Wiederkäuen. Das Gehirn des wiederkäuenden Tieres ist allerdings nicht voll wach – es „döst“ rhythmisch vor sich hin, und Kuh wie Schaf verfügen dabei über alle Zeit der Welt (die Forscherin zur Chronobiologie bei Tieren ist Professor Dr. Irene Tobler aus Zürich).

Uns dagegen wird die Zeit seit Beginn der Moderne immer knapper, wie von Thadden feststellt. „Wachsendes Leistungsbewusstsein“ sieht die Autorin da am Werk, das uns nötige, immer mehr in eine Zeiteinheit hineinzupacken und den eigenen Programmen hinterher zu hecheln. Irgendwas an dieser Art „Leistungsbewusstsein“ ist aber ziemlich schräg, ignoriert dieses Bewusstsein doch gleichzeitig die biologischen Voraussetzungen für wirkliche Leistung gerne, um nicht zu sagen: es verachtet sie. Zwei davon sind richtig gesetzte Pausen und guter Schlaf, der genau so lange dauert, wie es für das Individuum „richtig“ ist. Ausgerechnet das, was die „modernen Zeiten“ gerne als Faulheit und damit Anti-Leistung hinstellen, ist nämlich eine Basis jeder Leistung, die den Namen verdient.