Warum müssen wir schlafen? – Benedikt XVI trat wegen „Schlaflosigkeit“ zurück

Kammerspiele München 2015

„Schlafen kann ich noch, wenn ich tot bin“ – Rainer Werner Fassbinders einschlägiger Spruch ist so legendär wie absurd. Wir wissen alle, dass wir schlafen müssen. Doch seit die Menschheit über sich nachdenkt, fragt sie sich, warum, nicht zuletzt, weil sich viele wie Fassbinder dadurch in dem beschnitten fühlen, was sie „frei“ nennen. Die Folge bis heute: gerade in den reichen Ländern gibt man damit an, wenn man wenig schläft. Die notwendige Kehrseite: man verachtet den Schlaf.

Wie die Wissenschaft nach dem Sinn des Schlafs sucht

Die Schlafforschung hat sich von Anfang an auch mit der Frage nach dem Sinn des Schlafs beschäftigt. Doch gute Antworten ließen auf sich warten. Bis in die 1970er-Jahre hinein wurde sogar ernsthaft eine ziemlich schräge Idee Benjamin Franklins diskutiert: Der hielt den Schlaf für ein unsinniges Überbleibsel der Evolution, das sich mit der elektrischen Beleuchtung von selbst erledigen würde.

Fehlanzeige. Etwas stimmt trotzdem: wir schlafen heute etwas weniger als unsere Vorfahren um die letzte Jahrhundertwende. Aber wir schlafen. Warum? Leider beantwortet die Natur derart pauschale Fragen nicht. Da muss man sie schon präziser befragen. Die erste „Übersetzung“ der Warum-Frage hieß „Ab welcher Wachdauer stirbt man?“ Diese Übersetzung war zu platt. Man hatte Schlaf als eine Art Stoffwechsel missverstanden. Wenn wir bestimmte Stoffe eine Weile nicht bekommen, sterben wir. Beim Sauerstoff dauert das Minuten, beim Wasser Tage und bei Nährstoffen Wochen. Beim Schlaf aber ist eine solche Frage viel zu mechanistisch. Da es beim Schlaf keinen „Stoff“ gibt, steht die Frage gewissermaßen auf dem Kopf.

Es war die Chronobiologie, die sie auf die Füße stellte. Der Schlaf ist nämlich Teil eines chronobiologischen Prozesses. Und wenn der nicht läuft, wie er sollte, passiert allerlei Missliches. Die Chronobiologie sieht für die meisten von uns vor, dass wir sieben bis acht Stunden schlafen, qualitativ gut (was das ist, steht an mehreren Stellen dieses Blogs, z.B. hier) und in der Nacht. Tun wir das nicht, dann fangen wir uns etwa leichter Infektionen ein; falls wir akut krank werden, dauert die Genesung länger; und langfristig steigt das Risiko für viele chronische Erkrankungen, was die Lebenserwartung tatsächlich verkürzt. Aber eben nicht sofort.

Kurzfristig ist etwas anderes beeinträchtigt: unsere psychische Stabilität und unsere Leistungsfähigkeit, die körperliche wie die geistige. Immer. Von Hochleistung ganz zu schweigen.

Benedikt XVI – leistungsunfähig durch Schlaflosigkeit

Genau das hat ausgerechnet Papst Benedikt XVI, bürgerlich Joseph Ratzinger, verstorben an Sylvester 2022, ernst genommen. Für einen Mann der Kirche ist das nicht selbstverständlich, ist doch der Schlaf der Jünger am Ölberg ein Negativ-Topos des Christentums, der schon viele dazu brachte, den Schlaf zu verachten.

Zwei schlafende Jünger. Ferrara

Dieser Tage jedenfalls ging es durch die Presse, und zwar nicht nur durch die Kirchenpresse, sonder querbeet von der Süddeutschen bis zur Welt, vom Bayerischen Rundfunk bis zur Tagesschau, vom Boulevard bis zu Wochenmagazinen. Demnach lüftete Benedikt kurz vor seinem Tod das Geheimnis, das knapp zehn Jahre über seinem Rücktritt lag. Den hatte er mit „gesundheitlichen Problemen“ begründet, die seine Amtsführung beeinträchtigen würden. Nie hatte er sagen wollen, welche das waren.

Ich persönlich finde es rührend, dass er kurz vor seinem Tod in einem Brief an Peter Seewald mit der Sprache herausrückte. „Schlaflosigkeit“ sei es gewesen. Benedikt soll von seinem Leibarzt sogar „starke Mittel“ bekommen haben, um überhaupt zu schlafen. Kein Wunder, dass sie ihn tagsüber leistungsunfähig machten, egal, welche es waren. Schlafmittel bringen einen entweder zum Schlafen, dann bleibt man tagsüber oft genug müde. Oder sie nützen nicht viel, dann schläft man schlecht und ist tagsüber auch nicht leistungsfähig. Schlafmittel sind leider nur äußerst selten ein Mittel der Wahl – sagen selbst die Apotheken-Profis.

Ein Hoch jedenfalls auf Benedikt und sein posthumes Bekenntnis zu seinen Schlafproblemen als Krankheit! Wie schön wäre es, wenn seine „Schlaflosigkeit“ dazu beitragen könnte, das Ansehen des Schlafs zu heben.

Gut schlafen im Nachtzug – vorbei?

Istanbul Express -heute im Museum

Istanbul-Express – nur noch im Museum. Demnächst alle Nachtzüge?

Die Urlaubszeit beginnt – und die Bahn verkündet allen Ernstes, ihre schon früher geäußerten absurden Sparmaßnahmen mit dem Winterfahrplan in die Tat umsetzen zu wollen. Sie möchte die Nachtzüge abschaffen. Jedenfalls die, in denen das möglich ist, womit sie bisher für die sogenannte City Night Line geworben hat: „Sie reisen im Schlaf und wachen morgens am Zielort aus“ – und: „Sie kommen ausgeruht direkt im Stadtzentrum an“. Super Zeitmanagement. Falls man schlafen kann.

Schlafen?– richtig gut nur im Liegen

ICE - der Lieblingszug der DB

ICE- nachts ziemlich ungeeignet

Schlafen allerdings ist nur dann wirklich erholsam, wenn man liegt. Zwar sind Liege- und Schlafwägen ein wenig laut – aber so lange, dass man am nächsten Tag  einigermaßen fit ist, schläft man dort schon. Sitzend im ICE ist das erheblich schwerer, und zu allem Überfluss schlägt es sich aufs Kreuz. Sitzen ist nun mal nicht die beste Haltung für das Lebewesen Mensch – und viele Stunden nachts schon gleich gar nicht. Tatsächlich hat die Bahn angekündigt, die Nachtfahrer in die ICEs zu verbannen, also zu vergraulen – mit 250 km/h und im Sitzen. Wie intelligent! Nach einer Nacht im Sitzen ist man nicht ausgeruht. Wer das Gegenteil behauptet, hat keine Ahnung vom Schlaf oder lügt einfach.

Die Bahnoberen – keine Bahnnutzer?

Dieser neueste Coup zeigt wieder mal, was die oberen Etagen der Bahn mit dem ihnen anvertrauten Unternehmen tun: es kaputtsparen. Selbst zu nutzen scheinen sie es nie, sonst würden sie sich solche Schildbürgerstreiche  sparen. Niemals kämen hochbezahlte BMW-Mitarbeiter auf die Idee, etwas anderes als BMW zu fahren. Die Bahnoberen? Fahren Auto. Obwohl sie eine Netzkarte haben (BahnCard 100), für die 1. Klasse, wie es heißt; diese „Perlen“ landen offensichtlich an der falschen Stelle.

Liege- und Schlafwagennutzer fahren begeistert Bahn

Die Bahn braucht Menschen, die von der Fortbewegung auf Schienen überzeugt sind, nicht nur solche, deren Auto gerade in der Werkstatt ist. Leute, die weitertragen, dass Eisenbahnfahren super ist – lesen, arbeiten, dösen, Zeit haben, herumlaufen, essen, sogar im Speisewagen, umweltfreundlich, manchmal nette Leute, alles gehört dazu. Die meisten dieser Überzeugten haben schon lange Strecken nachts zurückgelegt. Im Schlaf- oder Liegewagen. Oder im Abteil quer liegend. Niemals im Pseudo-Nachtzug ICE-Großraumwagen. Nicht wenige wurden erst zu begeisterten Zugfahrern, nachdem sie im Liegewagen unterwegs waren.

Süddeutsche Zeitung trauert um die echten Nachtzüge

Bahnhof Rovereto

Bahnhof Rovereto – die Nachtfahrt über den Brenner ist vorbei

Am 1. 6. 2016 hat Matthias Drobinsky in der Süddeutschen einen wunderschönen Nachruf auf die Nachtreisen geschrieben. Überschrift sehr passend: „Mord im Orientbus“? Klar, wäre völlig schwachsinnig. Eine spannende Geschichte kann nur im Orientexpress spielen. Subtext Drobinsky: So dumm muss man erst mal sein wie die Bahnoberen.

Rettet die Nachtzüge der DB (und die Autozüge auch)

Die zugehörige Unterschriftenkampagne läuft noch. Die ersten 28.882  Unterschriften wurden zwar bereits in Berlin überreicht. Doch mit jeder weiteren steigt die Chance, dass sich auch der Petitionsausschuss des Bundestages damit befasst. Immerhin vertritt der Bundestag alle Eigentümer. Uns.

„Labour of Love“ (Asha Jaoar Majhe, Kinofilm, Indien, 2014)

Aditya Varmi Senguptas preisgekrönter Film beim Filmfest München erzählt auch über den Schlaf

Flughafen Kolkata, © 2015 B.Knab

Flughafen Kolkata, © 2015 B.Knab

Kalkutta, Hauptstadt des indischen Bundesstaates Westbengalen. Im Radio wird auf Bengalisch eine große Entlassungswelle für Arbeiter aller Art angekündigt. Die Leinwand zeigt die englische Übersetzung der Radionachrichten in weißen Buchstaben, ansonsten ist sie schwarz. Später wird man die Sprechchöre der Demonstranten hören, die nur eines wollen: ihren Job behalten. Sie fordern kein Geld, nichts zu essen, kein Dach über dem Kopf und keine Kleidung. Sie fordern ein, was heutzutage „Arbeitsplatz“ heißt und auch in Indien gleichgesetzt wird mit Überleben in Würde.

Die Geschichte

Die beiden eigentlichen Protagonisten dieses Films haben einen solchen „Arbeitsplatz“, beide sind schön und jung. Die Ehefrau kontrolliert in einer Manufaktur für Ledertaschen die gepackten Pakete für den Versand, der Mann eine Maschine, die Zeitungen druckt, falzt und bündelt. Sie können sich eine kleine Wohnung in der Altstadt Kalkuttas leisten, klassisch winzig im Kolonialstil, in den Fensteröffnungen einbruchsichere Metallstangen, keine Glasscheiben. Diese Öffnungen lassen die Klänge des alten Kalkutta durch, des Kalkutta der engen, dunklen Gassen, in denen nicht einmal Motorräder Platz hätten. Das erspart den sonst überall dröhnenden Verkehrslärm.

Sengupta zeigt 24 Stunden dieser Ehe (Trailer des Films hier). Der Mann arbeitet nachts und schläft tags ein paar Stunden, die Frau umgekehrt. Beide schlafen zu kurz. Sie treffen sich einmal am Tag, morgens, wenn er nach Hause kommt. Da begegnen sie sich liebevoll, in Schwarzweiß und Zeitlupe, keine Worte. Sie reicht ihm zur Begrüßung eine Tasse Tee. Noch ehe er den Tee getrunken hat, muss sie aufbrechen zur Arbeit, zu Fuß, mit der Straßenbahn, mit dem Bus.

Trambahn Nr. 235 in Kalkutta ©2015 B.Knab

Trambahn Nr. 235 in Kalkutta ©2015 B.Knab

Was sonst zu Hause passiert, ist eingespielt: er geht nachmittags einkaufen, sie flickt am Abend. In aller Frühe kocht sie, zwei Portionen für ihn, zwei für sich selbst, die sie dann auf die typisch indischen Transportkästschen für Essen aus Blech verteilt.

Schlaf und Arbeitsplatz

Was hat das mit Schlaf zu tun? Der Mann verlässt das Haus bei Helligkeit und kommt zurück, wenn es wieder hell ist. Das sind in Nordindien ganzjährig mehr als zwölf Stunden. Zeitungen müssen tatsächlich nachts gedruckt werden, immerhin ist der Nachtjob des Mannes wirklich notwendig. Die Schlafforschung hat trotzdem gut belegt, dass Nachtarbeit nicht gesund ist. Ständige Müdigkeit auch nicht: Mann wie Frau scheinen vom Mobiltelefon jeweils aus dem Tiefschlaf geweckt zu werden. Sie schaffen es kaum aufzustehen. In den wenigen gemeinsamen Minuten kann dieses Paar sich seiner Liebe vergewissern, momentan. Leben kann es sie kaum, Freundschaften sind nicht drin, Kinder undenkbar. Das wird nicht lange so gehen. Überlange Nachtarbeit plus Wegezeiten, die das soziale Leben auf Minuten schrumpfen lassen: das potenziert Gesundheitsrisiken. Kein Anlass zur Klage – schließlich verlieren gleichzeitig viele ihre Lebensgrundlage. Oder?

Dieser langsame, poetische Film erzählt in hinreißenden Bildern vom Alltag scheinbar privilegierter Menschen in Kalkutta. Man erlebt mit, wie ihre Arbeit aussieht und ihr überlanger Arbeitstag, wie sie sich im Schlaf teilweise davon erholen, und wie sie ihre Liebe auf die verbleibenden Minuten des Tages konzentrieren müssen. Ihre Schlafzeiten jedoch sind definitiv kein Privileg. Es ist eine Frage der Zeit, wann das problematisch wird.

Die schlaflose Gesellschaft

„Die Schlaflose Gesellschaft“ heißt Michael Heuers neuester 45-Minuten-Film, den der Norddeutsche Rundfunk erfreulicherweise letzte Woche sendete. Er begleitet mehrere Menschen, die unter Schlafstörungen leiden, teilweise seit Jahren. Alle beschreiben den Stress, der sie nachts wachhält und so ihre Erholung verhindert. Der Stress kommt oder kam vom Arbeitsplatz und reicht von psychischem Druck bis zur Schichtarbeit.

 Schichtarbeit und Schlafstörungen

Tatsächlich führt gerade Schichtarbeit extrem häufig zu Schlafstörungen, vor allem dann, wenn sie auch Nachtschichten enthält. Der Mensch ist nun mal nicht gemacht für Nachtarbeit. Viele kommen richtig schlecht damit klar, einige besser – aber vorbeugen kann man in jedem Fall. So hilft es, wenn man die Nachtarbeit sehr gut vorbereitet und begleitet, und es hilft, wenn das Schichtsystem an die Innere Uhr der Betroffenen angepasst wird.

An der Inneren Uhr schrauben lässt sich jedenfalls kaum. Sie ist verantwortlich, dass so viele Leute die Nachtarbeit nicht gut vertragen. Deshalb sollten Menschen nur dann nachts arbeiten, wenn es wirklich unumgänglich ist. Das ist bei uns ziemlich anders. In einigen Punkten sind wir alle beteiligt: Je mehr 24-Stunden-Service wir als Gesellschaft erwarten und in Anspruch nehmen, umso mehr Menschen „müssen“ nachts arbeiten, um diesen Service zu bieten. Schlafstörungen bei vielen inbegriffen.

Zwei Formen der „Schlaflosigkeit“

Diese 24-Stunden-„Normalität“ ist ein besonderer Aspekt der „schlaflosen Gesellschaft“, und er wäre einen weiteren Film wert. Heute halten es viele für cool, nachts hochaktiv zu sein und insgesamt so wenig wie möglich zu schlafen. Darauf weist in Heuers Film der Arzneimittelforscher Gerd Glaeske hin, und er benennt die Folgen: Es verleitet die Leute zur Chemie. Wollen sie wach sein, schlucken sie Muntermacher, wollen sie schlafen, greifen sie zu Schlafmitteln. Andere sind aus Schlafmangel einfach ständig müde. Dazu habe ich in diesem Blog schon geschrieben.

Kann man Schlafstörungen loswerden?

Ob Schlafstörungen oder absichtlicher Schlafmangel, die Folgen sind gleich: die Leute sind müde. Die Menschen mit Schlafstörungen ordnen das korrekt zu: sie würden gerne mehr schlafen. Kollege Weeß aus Klingenmünster erklärt, dass sie das schaffen könnten. Ein wichtiger Schritt ist, dass sie anders darüber denken. Es beginnt damit, dass sie Ruhe und Entspannung als Bestandteil des Tages erleben. Gelingen wird das nicht auf Knopfdruck oder Befehl, es verlangt systematisches Training. Die Kommentare auf der ndr-Seite allerdings illustrieren: Immer noch sind Menschen mit Schlafstörungen völlig desillusioniert. Mehr dazu demnächst.

Der Film

Michael Heuer hat einen sehr eindringlichen Film gedreht. Er zeigt darin, was Schlafstörungen anrichten. Und er zeigt Punkte, an denen man gegensteuern könnte. Manchmal hilft nur noch, den Job zu wechseln. Im Film schult der Ex-Banker auf Erzieher um. Vielleicht steckt er ein paar Ex-Kollegen an?

Immer erreichbar für die Chefs?

Permanent Online?!, fragte die Evangelische Akademie Tutzing Ende Juni 2011 mit einer Tagung (Materialien hier). Führungskräfte, Berater jeder Art und Betriebsräte diskutierten ausgiebig. Die Zeit dafür war reichlich bemessen, nach den Vorträgen des ersten und in den Workshops des zweiten Tages, vor allem aber in den tutzing-typischen Zeiten dazwischen.

Die Vorträge zeigten, unter welchem zeitlichen Druck zumindest Fach- und Führungskräfte in den Firmen heutzutage stehen, und wie das mit dem gestiegenen psychischen Druck zusammenhängt – Stichwort Burnout.  Die Arbeitszeitgesetze etwa greifen nicht und sind überdies in manchen Punkten vorsintflutlich. So gilt es formal als Arbeitszeit, wenn mich mein Chef abends um zehn anruft. Ab diesem Zeitpunkt müssen eigentlich elf Stunden vergehen, bis ich wieder für die Firma tätig werde. Das ist, gelinde gesagt, illusorisch, wird also ignoriert. Zeitgemäße Lösungen müssten anders aussehen. Die einzige Chance, so Robert Fischer vom Gesamtbetriebsrat der Allianz, sind firmeninterne Vereinbarungen. Insofern sind Smartphone, E-Mail & Co. samt der flexiblen Arbeitszeit angenehm, aber sie haben eine Kehrseite. Die ist erstmal organisatorisch und kulturell, nicht technisch: Seit es möglich ist, ständig erreichbar zu sein, wird es auch erwartet, im Zweifel 24 Stunden. Damit wird es zunehmend schwieriger, überhaupt ein Privatleben zu pflegen; ganz zu schweigen davon, es von der Arbeit getrennt zu halten.

Insofern war es geradezu rührend, dass Daniel Leicher, eingeladener “Digital Native” und frischgebackener Abiturient, einerseits genau das als völlig selbstverständliche Anforderung an seinen späteren Job formulierte: Trennung von Arbeit und Privatleben. Andererseits, bei “Facebook vorbeischauen” zu dürfen, wann immer er das wolle. Auf die Frage, wie viele Stunden er denn genau online sei, antwortete er absolut verständnislos: “Das kann ich nicht sagen, wir gehen nicht ins Netz, wir sind immer drin”. In seinem Blog nennt er diese Frage später “konfus”. Ich allerdings musste schmunzeln, weil mir die gleiche Frage auf der Zunge gelegen hatte: Schließlich wird (und kann) es kein Chef zulassen, dass ein Mitarbeiter während der Arbeitszeit “ständig” nebenbei auch noch privat online ist, digitaler Eingeborener hin oder her.

Was die Tutzinger Organisatoren um Philip Büttner und Martin Held “Erreichbarkeitsökonomie” getauft hatten, ist tatsächlich weniger eine Frage des Internets als der Menschen bzw. der Psychologie. Das Internet ist da, wie Richard Gutjahr richtig formuliert hatte. That’s it. Ich persönlich finde, es wird von beiden Extremen überschätzt: Von denen, die es schlecht bedienen können und deshalb Angst davor haben, genauso wie von denen, die befürchten, einen Tag ohne ihre sozialen Netzwerke nicht zu überleben. Die Frage ist: Wie gehen wir als Menschen damit um? Lassen wir unser Leben und Arbeiten von dem diktieren, was technisch möglich ist? Oder überlegen wir uns vorher, was wir als Menschen brauchen, um gesund zu leben und produktiv zu arbeiten? Das ist keine Frage des Internets; es sind Fragen der Biologie und der Psychologie.

Folgerichtig diskutierten die meisten Workshops tendenziell psychologische Fragen. In meinem eigenen Workshop stellte ich anhand einiger Beispiele vor, wie wir Psychologen Leistung testen und wie biologische Rhythmen geistige Leistung beeinflussen. Einerseits geht es dabei um die Folgen von Schlafmangel, andererseits direkt um Tageszeitenrhythmen. Wir beschäftigten uns auch mit Pausen, die zwar Tätigkeiten unterbrechen – sinnvollerweise nach etwa anderthalb Stunden -, aber letztlich die Leistung erhöhen. Wobei ein Anruf oder eine E-Mail eine erzwungene Unterbrechung sind und gerade keine Pause. Und schließlich mit dem Thema, das letztlich eine Mischung aus Chronobiologie und klassischer Psychologie ist: Multitasking. Immer wieder wird es gefordert und die sogenannte Multitasking-Fähigkeit als Inbegriff höherer Intelligenz gepriesen. Dabei bestätigt die Psychologie seit den Anfängen der Aufmerksamkeitsforschung, dass “dual tasking” und vor allem Multitasking Leistungen grundsätzlich beeinträchtigt. Erst kürzlich ging der schöne Titel über den Ticker des idw (Informationsdienst Wissenschaft): Beim Multitasking sind alle gleich – schlecht.