Warum müssen wir schlafen? – Benedikt XVI trat wegen „Schlaflosigkeit“ zurück

Kammerspiele München 2015

„Schlafen kann ich noch, wenn ich tot bin“ – Rainer Werner Fassbinders einschlägiger Spruch ist so legendär wie absurd. Wir wissen alle, dass wir schlafen müssen. Doch seit die Menschheit über sich nachdenkt, fragt sie sich, warum, nicht zuletzt, weil sich viele wie Fassbinder dadurch in dem beschnitten fühlen, was sie „frei“ nennen. Die Folge bis heute: gerade in den reichen Ländern gibt man damit an, wenn man wenig schläft. Die notwendige Kehrseite: man verachtet den Schlaf.

Wie die Wissenschaft nach dem Sinn des Schlafs sucht

Die Schlafforschung hat sich von Anfang an auch mit der Frage nach dem Sinn des Schlafs beschäftigt. Doch gute Antworten ließen auf sich warten. Bis in die 1970er-Jahre hinein wurde sogar ernsthaft eine ziemlich schräge Idee Benjamin Franklins diskutiert: Der hielt den Schlaf für ein unsinniges Überbleibsel der Evolution, das sich mit der elektrischen Beleuchtung von selbst erledigen würde.

Fehlanzeige. Etwas stimmt trotzdem: wir schlafen heute etwas weniger als unsere Vorfahren um die letzte Jahrhundertwende. Aber wir schlafen. Warum? Leider beantwortet die Natur derart pauschale Fragen nicht. Da muss man sie schon präziser befragen. Die erste „Übersetzung“ der Warum-Frage hieß „Ab welcher Wachdauer stirbt man?“ Diese Übersetzung war zu platt. Man hatte Schlaf als eine Art Stoffwechsel missverstanden. Wenn wir bestimmte Stoffe eine Weile nicht bekommen, sterben wir. Beim Sauerstoff dauert das Minuten, beim Wasser Tage und bei Nährstoffen Wochen. Beim Schlaf aber ist eine solche Frage viel zu mechanistisch. Da es beim Schlaf keinen „Stoff“ gibt, steht die Frage gewissermaßen auf dem Kopf.

Es war die Chronobiologie, die sie auf die Füße stellte. Der Schlaf ist nämlich Teil eines chronobiologischen Prozesses. Und wenn der nicht läuft, wie er sollte, passiert allerlei Missliches. Die Chronobiologie sieht für die meisten von uns vor, dass wir sieben bis acht Stunden schlafen, qualitativ gut (was das ist, steht an mehreren Stellen dieses Blogs, z.B. hier) und in der Nacht. Tun wir das nicht, dann fangen wir uns etwa leichter Infektionen ein; falls wir akut krank werden, dauert die Genesung länger; und langfristig steigt das Risiko für viele chronische Erkrankungen, was die Lebenserwartung tatsächlich verkürzt. Aber eben nicht sofort.

Kurzfristig ist etwas anderes beeinträchtigt: unsere psychische Stabilität und unsere Leistungsfähigkeit, die körperliche wie die geistige. Immer. Von Hochleistung ganz zu schweigen.

Benedikt XVI – leistungsunfähig durch Schlaflosigkeit

Genau das hat ausgerechnet Papst Benedikt XVI, bürgerlich Joseph Ratzinger, verstorben an Sylvester 2022, ernst genommen. Für einen Mann der Kirche ist das nicht selbstverständlich, ist doch der Schlaf der Jünger am Ölberg ein Negativ-Topos des Christentums, der schon viele dazu brachte, den Schlaf zu verachten.

Zwei schlafende Jünger. Ferrara

Dieser Tage jedenfalls ging es durch die Presse, und zwar nicht nur durch die Kirchenpresse, sonder querbeet von der Süddeutschen bis zur Welt, vom Bayerischen Rundfunk bis zur Tagesschau, vom Boulevard bis zu Wochenmagazinen. Demnach lüftete Benedikt kurz vor seinem Tod das Geheimnis, das knapp zehn Jahre über seinem Rücktritt lag. Den hatte er mit „gesundheitlichen Problemen“ begründet, die seine Amtsführung beeinträchtigen würden. Nie hatte er sagen wollen, welche das waren.

Ich persönlich finde es rührend, dass er kurz vor seinem Tod in einem Brief an Peter Seewald mit der Sprache herausrückte. „Schlaflosigkeit“ sei es gewesen. Benedikt soll von seinem Leibarzt sogar „starke Mittel“ bekommen haben, um überhaupt zu schlafen. Kein Wunder, dass sie ihn tagsüber leistungsunfähig machten, egal, welche es waren. Schlafmittel bringen einen entweder zum Schlafen, dann bleibt man tagsüber oft genug müde. Oder sie nützen nicht viel, dann schläft man schlecht und ist tagsüber auch nicht leistungsfähig. Schlafmittel sind leider nur äußerst selten ein Mittel der Wahl – sagen selbst die Apotheken-Profis.

Ein Hoch jedenfalls auf Benedikt und sein posthumes Bekenntnis zu seinen Schlafproblemen als Krankheit! Wie schön wäre es, wenn seine „Schlaflosigkeit“ dazu beitragen könnte, das Ansehen des Schlafs zu heben.

Sonne, Licht und Chronobiologie

Morgensonne in Varanasi, Uttar Pradesh, Indien – gerade am Aufgehen

Kāshi, Benāres oder Varānasi – die Stadt mit den drei Namen am Ufer der Ganga (auf Deutsch: Ganges) ist seit mehr als 5000 Jahren ununterbrochen bewohnt. Und seit damals feiern dort täglich Menschen den Sonnenaufgang als spirituelles Ereignis, nicht einige, sondern Tausende. „An kaum einem Ort in der Welt“, schreibt Diana Eck in ihrem Standardwerk „Banāras – City of Light“, „kann man etwas wie den Glanz erleben, den die Sonne ausstrahlt, wenn sie über dem Fluss aufgeht.“ In Indien ist Varānasi, die „Stadt des Lichts“, einer der heiligsten Orte überhaupt. Und weltweit sind viele solcher Orte den Menschen ähnlich heilig.

Nicht sehr viel später – die Sonne in Varanasi

Das Licht der Sonne

Bevor es elektrisches Licht gab, kam das Licht von der Sonne und nur von ihr. Die Sonne „verursacht“ nicht nur, was wir als Tag und Nacht sehen und erleben, sie ermöglicht das Leben auf der Erde überhaupt. So wurde sie als Quelle des Lebens auch religiös verehrt (später wurde sie zur weiblichen Gottheit, noch später zur männlichen). Auf der ganzen Welt feiern oder feierten Menschen die Sonne, in Kāshi-Varanasi oder am Gipfel des Samanaḷa Kanda (Adam‘s Peak) auf Sri Lanka, in Mesopotamien oder Ägypten, in Japan oder Süd-Amerika, im englischen Stonehenge oder in Pömmelte-Zackmünde bei Magdeburg.

In Pömmelte hat man vor einiger Zeit die Fundamente einer Rundanlage ausgegraben, die inzwischen als das mitteleuropäische Stonehenge gilt: 4.300 Jahre alt und in gleicher Weise wie Stonehenge auf den Stand der Sonne vor allem zu den Sonnenwenden ausgerichtet. Nur war Pömmelte nicht aus Steinen gebaut, sondern aus Holz – weshalb man nur die Fundamente ausgraben konnte. Darauf hat man dann die Anlage quasi als Museum neu errichtet.

Licht und Finsternis

Die drei monotheistischen Religionen ehren die Sonne nicht (mehr), aber sie benutzen Lichtmetaphern. Die hebräische Genesis berichtet lapidar-wuchtig, wie Jahwe das Licht erschuf (Joseph Haydn hat das in seinem Oratorium „Die Schöpfung“ kongenial in Musik übersetzt). Jesus bezeichnet sich selbst und seine Anhänger als „Licht der Welt“. Und im Koran hat der Glaube selbst Lichtqualitäten.

Alle drei sehen die Dunkelheit tendenziell negativ, die beliebte Übersetzung „Finsternis“ lässt einen sowieso frösteln. Wen wundert‘s, dass unsere Vorfahren diese Finsternis „vertreiben“ wollten? Zuerst im übertragenen Sinne, dann auch praktisch. Mit dem elektrischen Licht haben wir Menschen es „geschafft“, die Natur mal wieder flächendeckend zu „besiegen“. Nebenwirkungen wie üblich eingeschlossen.

Chronobiologie – die Biologie der Zeit

Die Chronobiologie untersucht, wie biologische Organismen auf die Zeit der Erde reagieren, allem voran, wie es sich mit dem Schlaf verhält, aber auch mit anderen physiologischen und psychologischen Gegebenheiten. Die Zeit, die wir wahrnehmen, beruht darauf, dass sich die Erde in 24 Stunden einmal um sich selbst dreht und dabei immer nur teilweise von der Sonne beschienen wird. Ergebnis: Licht und Dunkelheit wechseln sich regelmäßig ab.

Die Chronobiologie ist jünger als die Schlafforschung, und über einige chronobiologische Ergebnisse habe ich in diesem Blog schon berichtet. Das Wichtigste: Wir sind evolutionär so an den Wechsel von Tag und Nacht angepasst, dass wir beides brauchen, helles Licht, mäßiges Licht und Dunkelheit, und deren regelmäßige Abfolge. Wir brauchen morgens helles Licht, um wirklich wach zu werden, am besten die Sonne. Tagsüber brauchen wir es genauso, nur dann bleiben wir wach, emotional ausgeglichen und geistig fit.

Auch Dunkelheit ist biologisch notwendig

Umgekehrt brauchen wir auch die Dunkelheit, um gut zu schlafen, und dafür taugt die Nacht besser als jede technische Verdunkelung. Folgerichtig ist die übliche nächtliche Beleuchtung Gift für alle Lebewesen. Der (auch) chronobiologische Fachbegriff: Lichtverschmutzung (hier die Einleitung des in der SZ zitierten PNAS-Heftes). Es stört zwar manche Zeitgenossen nicht weiter, dass es auch unsere Lichtverschmutzung ist, die Insekten umbringt; doch sie macht uns halt auch selber krank, was die Chronobiologie längst belegt hat.

Die Lichter in Nachbars Garten – Horror für die Fauna

Trotzdem ist das chronobiologische System nicht starr, deshalb können wir gefahrlos eine Nacht durchmachen oder über Zeitzonen hinweg reisen. Heute allerdings überdehnen wir diese Flexibilität meistens – jedenfalls außerhalb von Corona. Aber dieses Virus ist auch chronobiologisch eine andere Geschichte.


„Der Schlaf ist doch die köstlichste Erfindung“ – Heinrich Heine


Heinrich Heine – vermutlich heute vor 222 Jahren in Düsseldorf geboren – gehört zu meinen persönlichen Lieblingsdichtern. Er war hochintelligent, scharfzüngig, witzig, gewaltfrei und melancholisch, und natürlich noch viel mehr. Wer „Deutschland, ein Wintermärchen“ noch nie gelesen hat, sollte das sofort nachholen. Für mich gehört es unbedingt in den Kanon, den alle Jugendlichen hierzulande kennen sollten. Wenn es sowas wie eine deutsche Seele gibt, dann hat sie Heinrich Heine hier beschrieben. Er war einer der größten deutschen Dichter, er war genial und schrieb genial, und sein Deutsch war schlicht zum Niederknien. Dennoch vermasselte ihm seine jüdische Herkunft die Universitätskarriere und trieb ihn ins Exil nach Paris. Unsere Schande Antisemitismus ist leider nicht neu.

Es hat eine Weile gedauert, von 1965 bis 1988, bis die Düsseldorfer Universität endlich den Namen ihres großen Sohnes bekam. Passend zum scharfsinnigen Denker Heinrich Heine gibt es seit 2015 an der Heinrich-Heine-Universität (HHU) sogar einen Wettbewerb im Science-Slammen, der natürlich Heine-Slam heißt. Der Dichter hätte seine helle Freude daran gehabt. Außerdem wählt die HHU jedes Jahr ein Lieblingszitat aus dem riesigen Fundus meisterhafter Heinrich-Heine-Sätze.

2019 haben sie eine Art Kurzfassung von Heines Schlafphilosophie gewählt: „Der Schlaf ist doch die köstlichste Erfindung“. Dieser Satz ist in der Schlafforschung bekannt und beliebt, weil er sich nicht damit aufhält, die positiven Folgen des Schlafs zu beschreiben, sondern ihn selbst hochleben lässt. Es ist aber auch schön, wenn gerade eine Universität Heines Bonmot ganz offiziell schätzt – schließlich kann nur, wer gut schläft, hervorragend forschen, hochwitzig slammen oder genial schreiben, kurz: Nennenswertes zustandebringen. Deshalb hier die vollständige Pressemeldung der Universität Düsseldorf, die Lieblings-Heine-Zitate der letzten Jahre sind auch noch dabei.

13.12.2019 06:00

Der Schlaf ist doch die köstlichste Erfindung“ ist an der Heinrich-Heine-Universität 2019 das liebste Heine-Zitat

Dr.rer.nat. Arne Claussen Stabsstelle Presse und Kommunikation
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Studierende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Beschäftigte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf haben ihr liebstes Heine-Zitat gewählt. Rund 160 Einsendungen gab es.

Zum Geburtstag des Namensgebers der Universität am 13. Dezember wählten die Mitglieder der Universität folgenden Ausspruch aus Heinrich Heines 1823 erschienenem „William Ratcliff“ zum Zitat des Jahres 2019:

„Der Schlaf ist doch die köstlichste Erfindung.“

Unter allen, die für dieses Zitat gestimmt haben, wird ein Shirt mit diesen Heine-Worten verlost. Darüber hinaus gibt es zehn HHU-Regenschirme – ein zum derzeitigen Wetter passendes Präsent. Die Gewinnerinnen und Gewinner werden per E-Mail benachrichtigt.

Zum 222. Geburtstag von Heinrich Heine

Heute jährt sich Heinrich Heines Geburtstag zum 222. Mal, ein wahrlich rheinisches Jubiläum. Zur Erinnerung an Heines Jubeltag haben die Mitglieder der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU) zum inzwischen neunten Mal ihr liebstes Heine-Zitat des Jahres gewählt. In diesem Jahr lautet es „Der Schlaf ist doch die köstlichste Erfindung“ und stammt aus seiner Tragödie „William Ratcliff“.

In den letzten Jahren wurden folgende Lieblingszitate Heinrich Heines gekürt:
2018: „Weise erdenken neue Gedanken, und Narren verbreiten sie.“
2017: „Die Worte sind dazu da, unsere Gedanken zu verbergen“
2016: „Wer nie im Leben töricht war, ein Weiser war er nimmer.“
2015: „So ein bisschen Bildung ziert den ganzen Menschen“
2014: „Ein Kluger bemerkt alles, ein Dummer macht über alles seine Bemerkungen.“
2013: „Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“
2012: „Geld ist rund und rollt weg, aber Bildung bleibt.“
2011: „Wie vernünftige Menschen oft sehr dumm sind, so sind die Dummen manchmal sehr gescheit.“

Zu Tibor Rode: Das Morpheus-Gen. Wenn du schläfst, bist du tot. Thriller

Schlaf als Protagonist eines Thrillers! Ausgerechnet Schlaf? Auf den ersten Blick ist das widersinnig, doch Tibor Rodes Logik ist bestechend: Wer wenig oder extrem wenig Schlaf braucht, kann den Rest der Welt ausstechen, verdient mehr Geld, wird weniger ausgetrickst, kann sogar mehr Verbrechen begehen. Im richtigen Leben verachten deshalb nicht zuletzt die sogenannten und selbsternannten Leistungsträger den Schlaf. Was würden sie nicht alles tun, um mit weniger auszukommen. Wie das Militär träumen sie von der ultimativen Wachpille oder wie Edison hoffen sie, dass sich ihr Schlafbedürfnis durch die 24-Stunden-Beleuchtung irgendwann von selbst verflüchtigt. Die Pharmaindustrie ist dran, bisher allerdings sind ihre Erfolge überschaubar. Doch wie wäre es mit der Molekularbiologie? Zum Beispiel mit einem „Morpheus-Gen“, benannt nach dem griechischen Gott des Traumes?

Der junge Wirtschaftsanwalt David Berger jedenfalls erlebt eines Tages, dass er extrem lange wach ist. Sein Freund hat ihm zwar eine Wachpille gegeben, damit er über seinem neuen, extrem umfangreichen und dringenden Fall nicht einschläft. Doch diese Wachheit katapultiert ihn gleichzeitig in eine Kaskade sich überschlagender Ereignisse. Dazu gehört ein Besuch bei einem hochnäsigen Arzt im Schlaflabor, eine Jagd durch den New Yorker (nicht nur) U-Bahn-Untergrund und vor allem das verstörende Wissen, dass die New Yorker Polizei nach ihm fahndet.

Alle Indizien deuten nämlich darauf hin, dass er am Tag zuvor seine Freundin und seinen besten Freund ermordet hat. Da er keine Möglichkeit sieht, den Verdacht zu entkräften, nimmt er das merkwürdige Angebot eines vornehmen Herrn an: einen gefälschten Pass und ein auf diesen Namen ausgestelltes Flugticket nach Berlin. Dort hat ihm nämlich sein längst verstorbener Vater, den er nie kennengelernt hat, ein Vermächtnis hinterlassen. Bis er dieses Vermächtnis in Händen hält, erfährt er nicht nur vieles über seine Herkunft und seine Eltern, sondern auch über Schlaf und die Folgen der Schlaflosigkeit – und über das Morpheus-Gen: sein Vater hat darüber geforscht.

Berlin Brandenburger Tor

Das läuft natürlich nicht gemütlich ab, ist doch gleichzeitig viel Geld im Spiel, Macht, Intrigen und eine ziemlich nonchalante Einstellung zum Leben anderer Leute sowieso. Ein New Yorker Polizist mischt sich ein, David muss unvorhergesehene Allianzen eingehen, Dinge tun, die ihm eigentlich zuwider sind, immer wieder schnell den Ort wechseln, und das unter ständiger Lebensgefahr. Alles hängt damit zusammen, wie die Menschen, denen er begegnet, mit dem Schlaf umgehen – genau das allerdings erschließt sich ihm nur sehr allmählich.

Der Thriller verfolgt Davids Geschichte dieser paar Tage zwischen New York, Berlin und Tschechien mit schnellen Schnitten, ständig hängt alles an jeweils neuen seidenen Fäden. Als Leser*in erfährt man mehr als David selbst, teils parallel, teils in Rückblenden: über den vornehmen Herrn, über die Polizei und diverse andere Institutionen der USA, sowie über eine junge Dame, die sich scheinbar selbstlos um David kümmert, tatsächlich aber ihre eigene Mission verfolgt. Und man blickt in die konspirative Vergangenheit der Strippenzieher.

Das ist spannend und süffig zu lesen, selbst dort, wo es über die Wissenschaft vom Schlaf geht, die sehr gut recherchiert ist. Am Schluss löst sich die Geschichte nicht nur logisch auf, auch Personen der Zeitgeschichte bekommen ihr Fett ab. Fazit: Ein spannender, teils atemloser Thriller, den man nicht mehr weglegen mag, und das inhaltlich wie sprachlich auf hohem Niveau.

Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt.

Vorwiegend psychologische Anmerkungen zu einem Bestseller.

Thomas Bauer: Die Vereeindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Reclam, 2018


„Die Vereindeutigung der Welt“ – den Titel könnte man fast genialisch nennen. Der Begriff „Welt“ suggeriert, dass man eine Art Philosophie des großen Ganzen erwarten kann. „Vereindeutigung“ markiert ziemlich eindeutig (sic!), dass Eindeutig-Sein negativ zu werten ist. Was der Begriff „Verlust“ im Untertitel bestätigt: Verschwundenes kann nur Verlust sein, wenn es positiv war – wer würde schon etwa das Verschwinden der Sklaverei aus Europa als „Verlust“ bezeichnen?

Unter diesem eindeutigen – durchaus sympathischen – Titel präsentiert der Münsteraner Islamwissenschaftler und Arabist Thomas Bauer zehn Kapitel zu seinem Spezialthema, der „Ambiguitätstoleranz„. Der Begriff Ambiguität kommt klassisch aus der Linguistik. Die beschreibt damit das Phänomen, dass Wörter den Kontext brauchen: in Kontext eins bedeuten sie dieses, in Kontext zwei etwas anderes. Die Psychologie hat das auf den Alltag und die menschliche Interaktion übertragen, wo fast alles mehrdeutig ist; entscheidungstheoretisch würde man „unsicher“ sagen. Menschen kommen unterschiedlich gut zurecht mit solchen Unsicherheiten bzw. Ambiguitäten. Wissenschaftlich-psychologisch gibt es sogar gewisse Hinweise darauf, dass, wer in Alltagsdingen wenig „Ambiguitätstoleranz“ aufbringt, etwas häufiger von erhöhter Ängstlichkeit geplagt ist.

Der Autor überträgt das auf ganze Kulturen, auch wenn er leider nicht positiv definiert, was er dort genau unter Ambiguitätstoleranz versteht. Dafür beschreibt er drei Aspekte, die für Kulturen der Ambiguitäts-in-toleranz typisch seien. Diese reklamierten erstens „die“ Wahrheit für sich, sie ignorierten zweitens die Geschichte, und sie strebten drittens nach Reinheit. In dem Bereich, für den Thomas Bauer wissenschaftlich ausgewiesen ist, dem religiösen, kennt man dieses Trio als „Fundamentalismus“. Heute seien IS und Konsorten derart gestrickt, so Bauer, historisch aber seien islamische Kulturen erheblich ambiguitätstoleranter gewesen als das christliche Abendland. Das klingt interessant, aber man hätte gerne neben dem Verweis auf sein gleichlautendes Buch (s.o.) auch noch ein paar konkrete Belege. Der Fundamentalismus habe einen Gegenpol, der genau wie dieser aus dem Streben nach Eindeutigkeit resultiere: die Gleichgültigkeit. Genau auf diesem Trip sei das heutige Europa.

Die Hagia Sophia. 1000 Jahre lang Symbol der christlichen Ostkirche. 1453 eindeutig zur Moschee gemacht.

Die Hagia Sophia in Istanbul. Sie war 1000 Jahre Symbol der christlichen Ostkirche. 1453, direkt nachdem er Konstantinopel erobert hatte, machte Sultan Mehmet II. die Hagia Sophie zur Moschee – eindeutig.

Der „Verlust“ der Ambiguität bzw. der Vielfalt (oft gleichgesetzt) zeige sich heute in allen Lebensbereichen, von den einheitlichen Monsanto-Tomaten bis zum Verschwinden vieler Sprachen in der Welt, vom Aussterben Tausender Arten in Flora und Fauna bis zur Werbung, die Uniformes als Individuelles verkauft. Diese Phänomene kennen (fast) alle und bedauern viele, die dazugehörige Kapitalismuskritik auch. Bauer verortet die Ursachen allerdings nicht in der Ökonomie, sondern in der (westlichen) Kultur.

Interessanterweise beklagt er, wissenschaftliche Expertise werde nicht mehr gewürdigt, was sich daran zeige, dass in Talkshows zum Islam häufig Nicht-„Islamwissenschaftler“ zu Wort kämen. Der Islamwissenschaftler TB tut das gleiche: Zwei von zehn Kapiteln widmet er der Musik und der Malerei des 20. Jahrhunderts. Dass Bauer dafür keine wissenschaftliche Expertise hat, zeigt sich leider fast in jedem Satz.

Graffito in München:
Eindeutig? Mehrdeutig? „Moderne Kunst“?

Eine der wichtigsten Folgen des (abendländischen) Vereindeutigungsstrebens sieht Bauer darin, dass alles und jedes in „identitäre „Kästchen“ sortiert werde. Beispiele: Die kulturalistische „Rassen“theorie des Nazis Ludwig Clauß, der interessant-skurril, aber für die Nazis letztlich irrelevant war. Die Monsanto-Einheits-Tomatensorten, die halt besonders profitabel sind. Die Homosexualität, die nicht als Handlungsoption gehandelt werde, sondern als „Kästchen“ – in der Psychologie würde man sagen: als Persönlichkeitsmerkmal. Dabei zitiert er allen Ernstes eine Neu-„Definition“ von sexistisch, die plötzlich mit (männlicher) Homo- bzw. Heterosexualität zu tun hat statt mit Frauen und Männern. Womit das Thema „Frauen und Eindeutigkeit“ elegant entsorgt wäre, einschließlich deren Schicksal im ambiguitätstoleranten Islam damals wie heute.

Schließlich geißelt er das, was er „Authentizitätswahn“ nennt. Ob Wein oder Politiker: alles müsse heute authentisch sein – ein Eindruck, den er auf Zeitungsartikel gründet, nicht auf wissenschaftliche Studien. Zum Begriff „Wahn“ möchte man ihm allerdings gerne die Hilfestellung des Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit empfehlen.

Zum Schluss plädiert Bauer dafür, Toleranz für Mehrdeutigkeit zu trainieren, etwa mit mehr Kunst und Musik in der Schule, was ihm viel Lob eingetragen hat. Dem kann man uneingeschränkt zustimmen, wobei sich die Frage stellt, wie er gleichzeitig die gesamte zeitgenössische Kunst als Beleg für die böse Vereindeutigung hernehmen kann – und dann als Heilmittel mehr davon fordern. Denn Musik, bildende Kunst und alle, die sie ausüben, leben im Heute, sind also modern. Gleichzeitig wurzeln sie – und in der Regel sehr bewusst – in der gesamten Kunst- und Musikgeschichte.

Die teils hymnischen Besprechungen dieses Textes in der Publikumspresse und im Netz lassen einen logisch-wissenschaftlich denkenden Menschen etwas ratlos zurück. Die Fachleute für seine Beispiele jedenfalls hüllen sich weitgehend in Schweigen: Philosophen, Psychologen, Musiker und Kunsthistoriker.