Europäische Union (EU), Mitteleuropäische Zeit (MEZ) und politisches Framing

Am letzten März-Wochenende habe ich auf ZEIT-online zusammengefasst, wie es die Gesundheit beeinträchtigt, dass wir bisher zweimal jährlich die Uhren umstellen mussten. Das können Sie hier anklicken.

EU-Umfrage zur sogenannten Zeit-Umstellung

Echte Zeit oder MESZ? Nicht erkennbar.

Echte Zeit oder MESZ? Nicht erkennbar.

Mit kleinen Veränderungen finden Sie den Text auch hier, weil ihn die Redaktion erneut hochgeladen hat, nachdem die Ergebnisse der EU-Umfrage zur Uhrenumstellung bekannt waren. Die EU-Kommission hatte die 512 Millionen EU-Bürger dazu online befragt, geantwortet haben lausige 4,6 Millionen, davon drei Millionen aus Deutschland. Die übergroße Mehrheit, vier von fünf, plädierte dafür, die Uhren nicht mehr umzustellen. Ich natürlich auch.

All denen, die keine Uhrenumstellung wollten, hatte die EU-Kommission noch eine zweite Frage gestellt: Sie fragte, ob sie lieber ständig „Winterzeit“ oder ständig „Sommerzeit“ haben wollten.

Politisches Framing

Diese zweite Frage ist suggestiv. Früher nannte man so etwas Propaganda, heute vornehmer „Politisches Framing„. Mit dem Thema „Framing“ wurde die US-Professorin Elisabeth Wehling, die aus Hamburg stammt, bekannt: Sie wendet ein psychologisches Phänomen auf die Sprache der Politik an. Es war Daniel Kahneman, der den Begriff in der Psychologie erstmals benutzte. Er ist ebenfalls US-Professor und außerdem bekam er 2002 den „Preis der Bank von Schweden“, einen Wirtschaftspreis, der als Analogon zum Nobelpreis gilt. Er bekam ihn dafür, dass er empirisch belegte: der Mensch hat, anders als die Ökonomie behauptet, außer seinem persönlichen Profit noch eine Menge anderes im Sinn.

Daniel Kahneman ist Psychologe und er hat in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ viele „Framing“-Geschichten beschrieben. Die laufen oft auf Szenarien dieser Art hinaus: Wenn man Menschen erzählt, eine Sache gehe mit 90 Prozent Wahrscheinlichkeit gut aus, entscheiden sie sich meistens dafür; erzählt man ihnen, das Risiko des Scheiterns der gleichen Sache betrage 10 Prozent, lassen sie die Finger davon. Dabei ist das Risiko in beiden Fällen exakt gleich. Aber die meisten Menschen nehmen ein Bild als völlig anders wahr, je nachdem, ob man den Scheinwerfer auf das Positive richtet oder auf die Gefahr. Das ist der Rahmen; er verändert ihr subjektives Bild so stark, dass sie die Entscheidung daran ausrichten, wie das Bild gerahmt ist.

Framing Sommer, Framing Winter

Genau das passierte notwendig bei der EU-Befragung. Sommerzeit – diesen Begriff sieht man unwillkürlich in dem „Rahmen“ Sommer, Sonne, Urlaub, blaues Meer oder zumindest Biergarten und lange, laue Abende draußen. Zum „Rahmen“ für Winterzeit dagegen gehört Kälte, Dunkelheit, Heizen, Innenräume und schlechte Verkehrsverhältnisse. Da wundert man sich nicht darüber, was so viele aus Deutschland wählten, vermutlich vorwiegend Kinderlose und Leute mit Normalarbeitszeiten.

Die einzige "echte" Zeitmessung: Sonnenuhr

Einzig „echte“ Zeitmessung: Sonnenuhr

Uhrzeit und Zeitzonen

Der Witz dabei: Die Uhrzeit ist immer künstlich. Natürlich ist nur die biologische Zeit, und die kommt von der Sonne (genauer: davon, dass die Erde sich – um 23° schiefgestellt – um die Sonne dreht). Deshalb nannten unsere Vorfahren den Zeitpunkt, zu dem die Sonne am höchsten steht, Mittag, die Mitte des Tages – Menschen können diesen Zeitpunkt seit tausenden von Jahren bestimmen. Da sie den Tag in zweimal 12 Stunden eingeteilt haben, ist es am Mitt-Tag 12 Uhr. Nur wegen der wirtschaftlichen und verkehrstechnischen Verflechtung wurden am Ende des 19. Jahrhunderts 24 Zonenzeiten über je 15 Längengrade eingeführt, im Deutschen Reich am 1. 4. 1893. Die Mitteleuropäische Zeit (MEZ) ist die Lokalzeit des 15. Längengrades, in Deutschland liegt dort Görlitz. Das ist keine „Winterzeit“, sondern die (angenäherte) Sonnenzeit zwischen 7,5°Ost und 22,5° Ost, im Korridor der MEZ.

Tschernobyl – Framing für die Gesundheit

Die „Sommerzeit“ jedoch ist die Lokalzeit von – ja, St. Petersburg, Kiew oder Antalya. Das mag im Juli wenig auffallen, aber im März und im Oktober stört es fast alle, die morgens aufstehen müssen. Nur wer seine Innere Uhr mit der Sonne synchronisieren kann statt mit der EU-Uhr, kann darüber lachen, etwa der Arzt bei uns in Bayern, den die Süddeutsche vorgestellt hat. So einen Menschen habe ich letzten Freitag persönlich kennengelernt. Ich hatte einen Vortrag zum „Timing des Schlafens“ gehalten, in der Burgenlandklinik in Bad Kösen. Mittags sprach mich dann ein sehr freundlicher Psychiater an, ein gut gelaunter, ganz offensichtlich in sich ruhender Mensch. Er erzählte, dass er sich schon immer weigert, die falschen Uhrenvorgaben umzusetzen, er lebe einfach nach der Lokalzeit. Dieser Psychiater erzählte schmunzelnd, wie er das seinen Mitmenschen erklärt: Ihr richtet Euch im Sommer nach der Tschernobyl-Zeit, ich nach der Sonne. Das ist Framing, und geographisch ist es vollkommen korrekt: Tschernobyl liegt direkt nördlich von Kiew.

Schlafkunde – was es so über Schlaf zu sagen gibt

Nach wie vor gilt Jürgen Zulley als „Schlafpapst“ Deutschlands. „Sein“ Schlaflabor in Regensburg war ständiger Gast im Fernsehen, und er natürlich mit. In seinen kurzen Statements erklärte er dabei wie in seinen Vorträgen lustig, kolloquial und in ganz normalem Deutsch, was es mit dem Schlaf auf sich hat, mit den Schlafstörungen und mit der Chronobiologie. Jetzt hat er ein kleines Buch herausgebracht, in dem er genau das auf aufgeschrieben hat.

Schlafkunde_ZulleyDieses Büchlein heißt ausdrücklich Schlafkunde, weil es Wissen vorstellt; es will keine Beratung oder gar Therapie bieten. Es versammelt 22 prägnante, einzeln lesbare Artikel über alle möglichen Fragen, die immer wieder rings um den Schlaf auftauchen. Die meisten haben Menschen in Klinik oder Universität irgendwann an ihn herangetragen. Er beschreibt wissenschaftlich, was beim Schlafen so im Gehirn passiert, aber er diskutiert auch strittige Themen wie die Frage, ob der Vollmond irgendeinen Einfluss auf den Schlaf hat (sein Schluss aus der Gesamt-Forschungslage heißt: definitiv keinen). Er befasst sich mit praktischen Dingen wie Schlaf und Reisen, Schlaf und Ernährung oder Schlaf und Sport.

Zulley ist Chronobiologe der ersten Stunde – er war Mitglied der Forschungscrew bei den weltberühmten Versuchen zur Inneren Uhr, die Jürgen Aschoff in den 1960er- und 70er-Jahren in einem unterirdischen Forschungslabor im Andechser Berg leitete. Auch darüber berichtet er. Außerdem nimmt er kompetent Stellung zu Fragen, wo sich Schlaf und Chronobiologie treffen: zum Mittagsschlaf – sinnvoll; zum Schulbeginn – da gibt es ein Forschungsdefizit; zur Sommerzeit – ohne jedes Wenn und Aber schädlich; zum Licht – schlichtweg unerlässlich; zu Jahres-, Wochen- und Tagesrhythmen allgemein – sie sind Teil unseres biologischen Erbes, deshalb geht es uns nur gut, wenn wir sie respektieren.

Die meisten Kapitel basieren Zulleys Kolumnen in der Patientenzeitschrift Schlafmagazin, andere sind für dieses Büchlein ergänzt. Die Texte, die sich so locker lesen, als hielte der Autor gerade einen Vortrag, spannen einen schönen Bogen vom Allgemeinen zum Besonderen. Wer immer sich einfach vergnüglich informieren will, ohne sich intensiv in die Fachliteratur zu vergraben, ist damit wunderbar bedient.

Sie können es direkt beim Verlag bestellen.

 

Astu – ein wunderbarer Film über Demenz

Und dann schläft er einfach ein, der alte Mann. „Appa“, der Vater, bürgerlich Dr. Chakrapani Shastri, war Professor für Sanskrit im indischen Pune. Jetzt lehnt er am Bauch des Elefanten, das kleine Mädchen neben sich. Und schläft, ein Lächeln auf dem Gesicht.

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Schlafen – Appa, das Kind und der Elefant (aus: Astu – so be it)

Dabei wird er gerade intensiv gesucht, von Tochter, Schwiegersohn und der Polizei. Einige Stunden zuvor ist er nämlich aus dem Auto seiner Tochter Ira ausgestiegen, die kurz etwas einkaufen wollte. Sie hatte sogar den Händler nebenan gebeten, kurz auf ihn  „aufzupassen“, schließlich leidet er unter einer Demenz. Das Ziel des alten Mannes: der Elefant, den ein „elephant-man“ im Markt herumführt und gegen wenig Geld Kinder darauf reiten lässt. Sie schaffen es sogar, ihn auf den Elefanten zu hieven – wie, bleibt unklar. Aber dann sitzt er oben. Überglücklich.

Später läuft er dem Elefanten-Mann und dessen kleiner Tochter hinterher, bis sie dort ankommen, wo die kleine Familie gerade wohnt, in einem Zelt neben einem Tempel am Fluss. Der Sanskrit-Professor hat immer ein Zitat aus den klassischen indischen Schriften auf den Lippen. Deshalb betrachtet ihn erst der Tempelpriester als eine Art Heiligen, und dann auch das Ehepaar. Vor allem der Frau wird ziemlich schnell klar, dass man ihn trotzdem behandeln muss wie ein Kind. Was sie dann auch tut, völlig unprätentiös und liebevoll. Das spürt der Großvater – und nennt sie „Mama“.

Der Hauptdarsteller Mohan Agashe ist zwar auch Schauspieler, im Hauptberuf aber ist er Psychiater. Er hat den Film (hier der Trailer) auf dem Weltkongress der Psychiatrie in Berlin im Oktober vorgestellt (kein Kongressprogramm mehr online, hier die deutsche Gesellschaft – hier die internationale). Leider waren in Berlin nicht sehr viele Leute da, deshalb möchte ich hier ein wenig Werbung dafür machen.

Es ist alles, wie es bei Alzheimer-Patienten oft ist: Im Rückblick erschließt sich, wie lange es gedauert hat, bis sich die Anverwandten eingestehen, um welche Erkrankung es sich handelt – auch Iras Ehemann, der immerhin Arzt ist. Und auf welchen Wegen sie herausfanden, wie sie ihn versorgen können. Appa ist ein sanfter Mensch und fast immer sehr lieb, doch die Demenz ist unvorhersehbar; sie lässt nicht zu, dass die Familie sich langsam von ihm verabschiedet.

Während der alte Vater verschwunden ist, machen sich alle Gedanken, teilweise im Streit, was sie falsch gemacht haben, Ira, ihr Mann, ihre Schwester. Am Morgen des Tages, nach dem er dem Elefanten hinterhergelaufen war, finden sie ihn mit der Polizei. Er ist unterwegs mit der kleinen Familie und dem Elefanten. Das Schlusswort hat die unglaublich liebevolle Frau: Bitte, sagt sie seinen erwachsenen Kindern, behandelt ihn, wie man ein gutes, aber sehr junges Kind behandelt.

Der Film

Der Film

Im Anschluss an den Film wurde noch kurz diskutiert. Ich habe gefragt, ob man eine DVD kaufen kann, aber es geht nur über amazon-streaming. Marathi mit englischen Untertiteln. Es scheint auch Raubkopien zu geben, aber die verlinke ich hier nicht. Stehlen ist schließlich keine Option.

Alternative Fakten, Wikipedia und die Wissenschaft

Vorgestern kommentierten auf ZEIT-online 67 Diskutanten meinen ZON-Beitrag über die Frage, ob man nun vorschlafen kann oder nicht.* Als ich gestern dazukam, mir die Kommentare anzuschauen, hatte ich außerdem von einer 68. Person eine E-Mail dazu bekommen. Dieser Herr und zwei Kommentatoren wussten über eine Frage viel besser bescheid als ich. Diese Frage war für den Artikel nicht zentral, und deshalb musste ich erst einmal lachen. Dann habe ich überlegt, dass diese drei Kommentare auch zeigen, wie Leute hierzulande mit Wissenschaft umgehen. Deshalb habe ich nicht nur allen dreien geantwortet, sondern schreibe auch hier noch etwas dazu.

In Frage stand das „zirka“ bzw. „circa“ in dem chronobiologischen Begriff „zirkadian“, den Franz Halberg geprägt hat. Das bedeutet „ungefähr“, und es wurde gewählt, weil der 24-Stunden-Rhythmus zwar endogen ist, seine Periodenlänge aber normalerweise nur ungefähr, nicht exakt, 24 Stunden dauert. Das ist für unser Leben auf der Erde durchaus von Vorteil, doch das ist eine andere Geschichte. Dieses zirka kommt nicht nur in zirkadian vor, sondern auch in zirkannual, zirkalunar und zirkaseptan (siehe Zulley & Knab, 2015 oder auch Unsere Innere Uhrannus heißt Jahr, luna heißt Mond und septem heißt sieben).

Die drei meinten also (bzw. zwei davon, einer schrieb einfach nur verklausuliert dumme Kuh, keine Ahnung), „zirka“ komme vom lateinischen „circus“, was Kreis heißt, und beschreibe im Prinzip sowas wie den Tages“kreislauf“.

Das Dumme ist nur: Wie überzeugt die drei auch immer gewesen sein mögen – die Sachlage ist eine andere. Es handelt sich bei dieser Frage nicht um etwas, was wissenschaftlich irgendwie strittig wäre, es ging auch nicht um den Beitrag an sich; es ging „nur“ um Wissenschaftsgeschichte. Wieso war ihnen das so wichtig? Freundlicherweise hat einer der drei den Wikipedia-Eintrag zur Chronobiologie verlinkt. Und dort steht sie tatsächlich, diese eigentlich unbedeutende Behauptung, die aber trotzdem frei erfunden ist und somit fraglos zu dem gehört, was man neuerdings „alternative“ Fakten nennt. Es führt die Wikipedia-Leser nicht nur in die Irre, sie glauben es dann auch noch besser zu wissen als die Chronobiologen selbst.

Genau genommen kann man darüber zwar lachen, auch über die durchaus herablassende Diktion. In Wirklichkeit ist es eher tragisch. Die Leute interessieren sich für Wissenschaft und lesen Texte darüber. Trotzdem scheinen sie kritiklos zu glauben, was sie im Netz finden, jedenfalls solange es ihrem Weltbild nicht widerspricht. Genau darüber klagen Lehrer und Unidozenten ständig, teilweise ist Wikipedia als Quelle sogar verboten. Nützt nix.

Nach welchen Kriterien beurteilen Leser die Wikipedia-Texte? Ist Wikipedia ihre letzte Instanz? Blenden die Leute aus, dass es bei Wikipedia immer Fehler gibt? Obwohl das alle wissen? Oder sind es halt doch nur Trolle? Ich gebe zu, ich habe mich nicht angemeldet und diesen Eintrag geändert. – Kommentare gerne per e-Mail – info – at – barbara minus knab punkt de.

* Antwort in einem Satz: Man kann es eigentlich nicht. Manchmal sieht es zwar so aus, aber einiges spricht dafür, dass man dann in Wirklichkeit nachschläft. Nachschlafen funktioniert nämlich sehr wohl. Es hilft, wenn man einmal oder eine ganze Weile zu wenig geschlafen hat. Das erleben nicht nur Menschen mit Schlafstörungen, sondern viele, die von Lärm oder Stress geplagt und ständig geweckt werden, oder die aus beruflichen Gründen zu wenig schlafen (allen voran Schichtarbeiter, Eltern kleiner Kinder eingeschlossen). Außerdem kommen all die zu wenig zum Schlafen, die gerne Nächte durchfeiern oder zeigen müssen, wie erwachsen sie schon sind.

Schlafen – jetzt ein Nickerchen

Wer viel pennt, ist doof, und wer schnarcht, weckt nur die anderen: Am Tag des Schlafes wird mit Mythen aufgeräumt – streng wissenschaftlich. Damit Sie besser schlafen.

Seit alters brennen am 21. Juni die Sonnwendfeuer, die Menschen feiern und machen diese Nacht zum Tag. Ausgerechnet dieses Datum wählten vor Jahren zwei Frankfurter, um für guten Schlaf zu werben. Bis heute wird ihr Tag des Schlafes begangen. Dabei sagt der Volksmund, im Hochsommer brauche man sowieso wenig Schlaf und beim Feiern fast keinen. Stimmt nicht ganz, sagt die Wissenschaft. Anlass genug, um einmal sechs gängige Volksweisheiten zum Schlaf zu hinterfragen.

1. Wer im Sommer durchmacht, ist weniger müde

Am 21. Juni ist es in Hamburg erheblich länger hell als in Garmisch, am Nordpol fällt die Nacht sogar ganz aus. Nur in Äquatornähe sind Tage und Nächte ganzjährig nahezu gleich lang. Die Jahreszeiten beeinflussten den Schlaf früher stark; in den kurzen Sommernächten des Nordens schlief man systematisch kürzer als im Winter. Ist das vorbei, seit wir alles bis zum Nordkap flächendeckend beleuchten?

Offenbar nicht ganz, wie eine norwegische Arbeitsgruppe um Oddgeir Friborg nachwies (Friborg et al., 2011). 180 Menschen aus dem Norden Norwegens zeichneten ihren Schlaf auf, eine Woche im Januar und eine im August. 150 Einwohner Accras, der äquatornahen Hauptstadt Ghanas, taten dasselbe. Die Ghanaer schliefen das ganze Jahr über gleich lange. Die Norweger dagegen machten im Winter das Licht auch mal aus und schliefen länger, die endlose Dunkelheit machte sie trotz Kunstlicht müde. Ganz unabhängig von den Jahreszeiten ist der Mensch also auch heute nicht. Dass durchgemachte Sommernächte Schlaf ersetzen könnten, ist jedoch Wunschdenken.

2. Unter acht Stunden geht gar nichts

Normal seien acht Stunden Schlaf, heißt es oft. Diese Norm ploppt fast automatisch auf, wenn jemand nachts nicht schlafen kann und besagte acht Stunden nicht mehr möglich sind. Dann grübelt man schon mal: Werde ich deshalb die Prüfung vermasseln? Krank werden? Sterben? Stand der Forschung ist: Im Mittel schlafen gesunde Erwachsene sieben bis acht Stunden (Tinguely, Landolt, Cajochen, 2014). Wie jede Statistik taugt aber auch diese nicht als Maßstab für den Einzelfall. Es beginnt damit, dass die Schlafdauer im Lauf des Lebens sinkt, von 16 Stunden bei Säuglingen bis zu den knapp acht der Erwachsenen. Dazwischen liegen die Jugendlichen, auch wenn viele es nicht gerne hören, dass sie noch neun Stunden brauchen.

Um diese Mittelwerte herum gibt es Bandbreiten des Richtigen; manche Menschen brauchen mehr als ihre Altersgruppe, andere kommen mit weniger aus. „Richtig“ hängt an einer Frage: Wie wach und leistungsfähig bin ich tagsüber? Wer unwillkürlich einschläft, ob am Steuer oder auf der Schulbank, hat ein klares Schlafdefizit. Wer außerhalb der Mittagsschlafzeit länger müde ist, auch.

3. Wer viel pennt, ist doof

Alles zwischen fünf und zehn Stunden Schlafbedürfnis kann normal sein. Trotzdem gilt hierzulande als faul, wer zehn Stunden braucht, meist sogar als geistig minderbemittelt. Dabei gehörten zwei unbestritten Hochintelligente zur Zehn-Stunden-Fraktion: Einstein und Goethe. Es gibt Kluge und weniger Kluge bei Langschläfern wie Kurzschläfern, Intelligenz und individuelles Schlafbedürfnis haben bei Erwachsenen nichts miteinander zu tun. Dennoch hält sich der Mythos hartnäckig, vor allem unter Menschen, die gerne als Leistungsträger betitelt werden, ganz im Sinne von Napoleons Behauptung: „Vier Stunden braucht der Mann, fünf die Frau und sechs der Idiot“.

Tatsächlich können wir zeitweise absichtlich kürzer schlafen, ohne gleich krank zu werden. Geistig leistungsfähig sind wir dann allerdings deutlich weniger und emotional ausgeglichen auch nicht (Weber et al., 2014). Bei Kindern scheint die Sache klarer, wenn auch umgekehrt. Kinder, die länger, vor allem aber besser schlafen, erzielen höhere Leistungen beim Denken und in Intelligenztests (Gruber et al., 2010).

4. Drei Tage wach mit Koffein und Kippe?

Koffein, Alkohol und Nikotin – unsere Alltagsdrogen sind legal, unangenehme Nebenwirkungen haben sie trotzdem, auch in Sachen Schlaf (Garcia, Candidate, Salloum, 2015). Alkohol gilt direkt als Schlummertrunk. Tatsächlich schläft schneller ein, wer einmal etwas trinkt, besser schläft er aber nicht. Wer regelmäßig trinkt, verspielt den Effekt. Auf Dauer riskiert er sogar ein echtes Schlafproblem, und das lange vor der Sucht.

Koffein und Nikotin nehmen wir ausdrücklich, um wach zu sein. Sehr viel Koffein steckt in Kaffee, weniger in Tee und Cola-Getränken, sehr wenig in Schokolade. Koffein weckt objektiv und oft länger, als uns lieb ist. Es kann nämlich bis zu fünf Stunden dauern, bis auch nur die Hälfte des Koffeins abgebaut ist. Mit Koffein im Blut schläft man schwerer ein, und der Schlaf wird flach und kurz. Auch Nikotin macht wach. Noch Stunden nach der letzten Zigarette kann es den Schlaf stören, und das auch langfristig. Zumindest schläft fast jeder dritte Raucher regelmäßig schlecht, auch wenn er sonst gesund ist (Cohrs et al., 2012). Das sind 50 Prozent mehr als bei vergleichbaren Nichtrauchern. Je mehr man raucht, umso riskanter wird es.

5. Wer schnarcht, hat selbst keine Probleme

Schnarchen ist laut, manchmal peinlich und meistens unschön. Aber es stört doch nur die anderen? Dieser Mythos hat schon viel Leid verursacht. Häufig ist Schnarchen nämlich alles andere als harmlos, sondern ein wichtiges Symptom der obstruktiven Schlafapnoe. Bei dieser Krankheit setzt nachts der Atem mehrmals pro Stunde aus, weil die Luftröhre kurz gewissermaßen in sich zusammenfällt. Dann gelangt keine Luft mehr in die Lunge und damit ins Gehirn. Das wird schnell lebensgefährlich, deshalb sorgt das Gehirn dafür, dass ein ganz besonders tiefer, besonders lauter Atemzug den Sauerstoffpegel wieder erhöht. Der Betroffene wacht nicht unbedingt auf, ist aber tagsüber müde. Auf lange Sicht riskiert er Herzinfarkt und Schlaganfall.

Deshalb sollte man gegensteuern, notfalls mit einer Sauerstoffmaske. Es gibt einige Versuche, eine Diagnose allein an der Art des Schnarchens festzumachen. Doch bisher taugen die Methoden allesamt noch nicht, wie Hui Jin und Kollegen aus dem chinesischen Guangzhou kürzlich berichteten (Jin et al., 2015). Man muss immer noch ins Schlaflabor.

6. Gut schläft, wer vor Mitternacht im Bett liegt

Wer in 24/7-Zeiten den Schlaf vor Mitternacht noch für den besten hält, geht als mythengläubig durch. Wo man doch morgens nach der Party super schläft. Leider nur ein neuer Mythos. Der Schlaf ist in sich gegliedert und verläuft in 90-Minuten-Zyklen, notfalls auch mittags.

Jeder Zyklus beginnt mit Leichtschlaf und endet mit REM-Schlaf (rapid eye movement); da bewegen sich die Augen schnell und wir träumen die richtig verrückten Geschichten. Dazwischen kann es Tiefschlaf geben. Im Tiefschlaf sind wir schwer zu wecken, und er ist besonders erholsam – es hat durchaus eine Logik, ihn als den „besten“ zu bezeichnen. Doch Tiefschlaf gibt es bevorzugt in den ersten beiden Zyklen, und das nur, wenn auch die Körpertemperatur stimmt.

Die ist gerade richtig, solange sie am Fallen ist. Das tut sie zwölf Stunden lang bis zum Tiefpunkt in der zweiten Nachthälfte. Er liegt bei Morgentypen früher, bei Abendtypen später, man nennt ihn auch „biologische Mitternacht“ (Zulley, Knab, 2015). Danach wird es schwierig mit dem Tiefschlaf. Es gibt ein Zeitfenster für den „besten“ Schlaf. Die gute Nachricht: Um 24 Uhr ist es noch nicht geschlossen.

Dieser Beitrag wurde zuerst am 21. 6. 2017 auf ZEIT-online veröffentlicht