Alternative Fakten, Wikipedia und die Wissenschaft

Vorgestern kommentierten auf ZEIT-online 67 Diskutanten meinen ZON-Beitrag über die Frage, ob man nun vorschlafen kann oder nicht.* Als ich gestern dazukam, mir die Kommentare anzuschauen, hatte ich außerdem von einer 68. Person eine E-Mail dazu bekommen. Dieser Herr und zwei Kommentatoren wussten über eine Frage viel besser bescheid als ich. Diese Frage war für den Artikel nicht zentral, und deshalb musste ich erst einmal lachen. Dann habe ich überlegt, dass diese drei Kommentare auch zeigen, wie Leute hierzulande mit Wissenschaft umgehen. Deshalb habe ich nicht nur allen dreien geantwortet, sondern schreibe auch hier noch etwas dazu.

In Frage stand das „zirka“ bzw. „circa“ in dem chronobiologischen Begriff „zirkadian“, den Franz Halberg geprägt hat. Das bedeutet „ungefähr“, und es wurde gewählt, weil der 24-Stunden-Rhythmus zwar endogen ist, seine Periodenlänge aber normalerweise nur ungefähr, nicht exakt, 24 Stunden dauert. Das ist für unser Leben auf der Erde durchaus von Vorteil, doch das ist eine andere Geschichte. Dieses zirka kommt nicht nur in zirkadian vor, sondern auch in zirkannual, zirkalunar und zirkaseptan (siehe Zulley & Knab, 2015 oder auch Unsere Innere Uhrannus heißt Jahr, luna heißt Mond und septem heißt sieben).

Die drei meinten also (bzw. zwei davon, einer schrieb einfach nur verklausuliert dumme Kuh, keine Ahnung), „zirka“ komme vom lateinischen „circus“, was Kreis heißt, und beschreibe im Prinzip sowas wie den Tages“kreislauf“.

Das Dumme ist nur: Wie überzeugt die drei auch immer gewesen sein mögen – die Sachlage ist eine andere. Es handelt sich bei dieser Frage nicht um etwas, was wissenschaftlich irgendwie strittig wäre, es ging auch nicht um den Beitrag an sich; es ging „nur“ um Wissenschaftsgeschichte. Wieso war ihnen das so wichtig? Freundlicherweise hat einer der drei den Wikipedia-Eintrag zur Chronobiologie verlinkt. Und dort steht sie tatsächlich, diese eigentlich unbedeutende Behauptung, die aber trotzdem frei erfunden ist und somit fraglos zu dem gehört, was man neuerdings „alternative“ Fakten nennt. Es führt die Wikipedia-Leser nicht nur in die Irre, sie glauben es dann auch noch besser zu wissen als die Chronobiologen selbst.

Genau genommen kann man darüber zwar lachen, auch über die durchaus herablassende Diktion. In Wirklichkeit ist es eher tragisch. Die Leute interessieren sich für Wissenschaft und lesen Texte darüber. Trotzdem scheinen sie kritiklos zu glauben, was sie im Netz finden, jedenfalls solange es ihrem Weltbild nicht widerspricht. Genau darüber klagen Lehrer und Unidozenten ständig, teilweise ist Wikipedia als Quelle sogar verboten. Nützt nix.

Nach welchen Kriterien beurteilen Leser die Wikipedia-Texte? Ist Wikipedia ihre letzte Instanz? Blenden die Leute aus, dass es bei Wikipedia immer Fehler gibt? Obwohl das alle wissen? Oder sind es halt doch nur Trolle? Ich gebe zu, ich habe mich nicht angemeldet und diesen Eintrag geändert. – Kommentare gerne per e-Mail – info – at – barbara minus knab punkt de.

* Antwort in einem Satz: Man kann es eigentlich nicht. Manchmal sieht es zwar so aus, aber einiges spricht dafür, dass man dann in Wirklichkeit nachschläft. Nachschlafen funktioniert nämlich sehr wohl. Es hilft, wenn man einmal oder eine ganze Weile zu wenig geschlafen hat. Das erleben nicht nur Menschen mit Schlafstörungen, sondern viele, die von Lärm oder Stress geplagt und ständig geweckt werden, oder die aus beruflichen Gründen zu wenig schlafen (allen voran Schichtarbeiter, Eltern kleiner Kinder eingeschlossen). Außerdem kommen all die zu wenig zum Schlafen, die gerne Nächte durchfeiern oder zeigen müssen, wie erwachsen sie schon sind.